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Baltic Sea Philharmonic in KölnHat Klassik nur so eine Zukunft?

Lesezeit 3 Minuten
Die Bühne ist dunkel und bläulich erleuchtet. Darauf ist das Orchester, in der Mitte ein Dirigent.

Sinfoniekonzert der Baltic Sea Philharmonic in der Stadthalle von Mülheim a.d. Ruhr am 12.10.2023

Das Baltic Sea Philharmonic Orchester spielte in Köln Tschaikowski und Grieg, allerdings in wunderlicher Zurichtung.

Auf dem Papier sah es harmlos aus, und wer nicht wusste, was ihn erwartete, konnte mit einem „normalen“ Konzertabend in der Kölner Philharmonie rechnen. Griegs Klavierkonzert und eine Suite aus Tschaikowskys „Nussknacker“ – traditionell-philharmonischer geht es kaum. Aber es wurde dann, beim Köln-Debüt des Baltic Sea Philharmonic unter Kristjan Järvi im Rahmen der Kontrapunkt-Konzerte, alles ganz anders als üblich – weshalb die Maßstäbe der gewohnten Klassik-Rezension an dieser Stelle auch versagen.

Ungewöhnliches Konzert in der Kölner Philharmonie

Ein dunkler, finsterer Saal, nur spärlich von wechselnden Farblicht-Effekten erhellt, auf dessen Podium sich die Musiker in ungewöhnlichen Gruppierungen zu psychedelischen Sphärenklängen schattenhaft versammelten – alles ziemlich gloomy und spooky. Grieg und Tschaikowsky? Ja, die kamen dann auch, aber in wunderlicher Zurichtung. Auszüge aus dem „Nussknacker“-Ballett erklangen in einer Bearbeitung des Dirigenten als „dramatische Sinfonie“, und die drei Sätze aus Griegs a-Moll-Konzert wurden über den Programmablauf verteilt – wobei der letzte Satz auf die finale Choral-Apotheose verkürzt, um nicht zu sagen: verstümmelt wurde. Musste einem da die ihrerseits aus dem Zentrum des Geschehens gerückte Kölner Pianistin Olga Scheps leidtun, die ihren Part mit leuchtender Kraft und Eleganz absolvierte? Dazu bestand offenkundig kein Anlass, der Künstlerin schien ihr Auftritt wirklich Spaß zu machen.

Nein, es war eben alles anders: Tschaikowsky und Grieg erklangen auch nicht als isolierte Nummern, sondern wurden hineingesogen in einen permanenten, über gut anderthalb Stunden hinweg mehr oder weniger nicht unterbrochenen musikalischen Flow, in dem auch noch Sibelius, Arvo Pärt, Elgar (der legendäre „Nimrod“ aus den „Enigma-Variationen“) und mit „Sireen“ ein Werk der orchestereigenen Musikerin Maria Mutso mitschwammen.

Hybrid-Performance zwischen Klassik und Pop

Wenn das Kölner Traditionspublikum dabei nicht buhte oder mit den Füßen abstimmte, sondern meistenteils begeistert mitging, dann verdient das für sich genommen nicht nur festgestellt, sondern auch nach seinem Grund befragt zu werden. Nun ja, mag man sagen, es war halt eine der bekannten und eben auch weithin beliebten Hybrid-Performances aus Klassik und Pop, wie man sie freilich weniger in der Philharmonie, als vielmehr in der Lanxess Arena erwartet. Aber Vorsicht! Popularität wird hier nicht mit künstlerischem Rabatt erkauft: Die Musiker aus den Ostsee-Anrainerstaaten spielen nicht nur auswendig, sondern auch – man hört es etwa am Geigensound und an den solistischen Bläserleistungen –, hochprofessionell und klangschön.

Kristjan Järvi wiederum, der Gründer der Formation, ist nicht irgendwer, sondern als Sohn von Neeme und jüngerer Bruder von Paavo Järvi Mitglied der legendären estnischen Musikerdynastie. Aber wenn er in dem erkennbaren Bemühen, aus ihnen das Letzte an Energie herauszuholen, wie ein charismatischer Derwisch durch die Reihen der Seinen tanzt, dann zeigt auch das an, dass hier die traditionellen Rollenzuschreibungen des Dirigentenmetiers nicht mehr funktionieren. Intensität und Ekstase, die die Trance des Repetitiven einschließt – das sind die Leitlinien der Auftritte des Baltic Sea Philharmonic, die die Formation nicht nur für sich selbst realisiert. Sie springen, wie es scheint, mit magischer Gewalt auf das Publikum über. Muss sich Klassik so anhören, wenn sie noch eine Zukunft haben will?