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Boom der DystopienWarum die Menschen der Zukunft nicht mehr trauen

Lesezeit 4 Minuten
Bella Ramsey (links) und Pedro Pascal in einer Szene aus „The Last of Us“

Szene aus der dystopischen TV-Serie „The Last of Us“

Warum nur sind Dystopien so beliebt, haben wir den Glauben an ein besseres Morgen verloren?

Die Zukunft war früher auch besser, seufzte schon Karl Valentin. Die schlechte Zukunft, das ist die Dystopie (vom altgriechischem „dys-“: „schlecht“) – der Ort, an dem wir auf keinen Fall landen wollen. Obwohl wir genau das befürchten. Solche Orte malen wir uns dieser Tage mit Vorliebe aus, in gedeckten Farben, wenn nicht gleich in Schwarz. Was einst Fremdwort war, ist heute eines der beliebtesten Genres fiktionalen Erzählens. Wir konsumieren Dystopien wie unsere Altvorderen Western oder Sandalenfilme.

Zukunftsängste gab es immer, die vorzeitige Erwartung der Apokalypse ist so alt wie die Menschheit. Zumindest wie deren Eintritt in die Historizität. Doch heute hat sich die Dystopie in unserem Möglichkeitsraum so breit gemacht, wie das Nichts im Reich Phantásien in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“.

Selbst eine bunte Musicalverfilmung wie „Wicked“ erzählt vom Abgleiten in eine faschistische Diktatur

Dystopisch sind die TV-Serien, die wir gucken – „The Last of Us“, „Fallout“, „Black Mirror“, „Silo“, die Liste ließe sich beliebig erweitern – und die Bücher, die wir lesen, von Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ bis zu Emily St. John Mandels „Station Eleven“, von Cormac McCarthy „Die Straße“ bis zu Ernest Clines „Ready Player One“. Dystopisch sind die Filme, selbst eine bonbonbunte Musicalverfilmung wie „Wicked“ erzählt vom Abgleiten eines Wunderlands in eine faschistische Diktatur. Auch die Jugendliteratur der vergangenen Jahre wie „Die Tribute von Panem“ oder „Die Bestimmung“ entwirft vorwiegend düstere Zukunftsszenarien, in denen junge Menschen versuchen, in Gesellschaftssystemen zu überleben, die sich gegen sie verschworen haben.

Das war nicht immer so. Ältere Menschen erinnern sich noch an die aluminiumglänzende Zukunft des Space Age, seine unerschrockenen Astro- und Kosmonauten, an das Raumschiff Enterprise, das durch unendlichen Weiten reiste, um das Prinzip Hoffnung noch in die letzten Winkel des Weltraums zu tragen.

Utopien können sich heute nur Milliardäre wie Elon Musk und Jeff Bezos leisten

„Utopia“ hatte der humanistische Gelehrte Thomas Morus vor 500 Jahren seine Unmöglichkeit einer Insel genannt, ein Eiland in Gestalt des aufgehenden Mondes. „Utopia“, das konnte Englisch ausgesprochen, sowohl guter Ort (altgriechisch „Eu-topia“) als auch Nichtort (altgriechisch „Ou-topia“) bedeuten: Der Fluchtpunkt vollkommener Glückseligkeit liegt just hinterm Horizont. Aber eine Gesellschaft ohne Hunger, ohne Geld, ohne Besitz, ohne Hass auf Andersdenkende oder Andersgläubige, mit Arbeit für jeden, Frauen wie Männer, aber auch nicht zu viel davon, die konnte sich der spätere Heilige schon vorstellen.

Und das konnten auch spätere Autoren, von Francis Bacons „Nova Atlantis“ (1627) über H. G. Wells „A Modern Utopia“ – ein Weltstaat im dynamischen Zustand andauernder Verbesserung – bis zu Arthur C. Clarkes „Die letzte Generation“ (1953), in dem Außerirdische den Menschen das Paradies auf Erden bringen, freilich zum Preis ihrer Individualität. Das ist das Problem aller Utopien, wie man all die Andersdenkenden oder Andersgläubigen auf einer kleinen Insel aussetzen kann, ohne, dass sie sich früher oder später die Köpfe einschlagen – und ohne, dass man ihnen die Möglichkeit zum Dissens nimmt, ohne die selbst der beste Ort zum Gefängnis wird.

Es gibt durchaus noch Utopien, etwa die nur noch menschenähnliche Gesellschaft in der „Culture“-Romanserie des schottischen Autors Ian M. Banks – der gute Ort liegt hier in fernster Zukunft – oder die Morus'sche Idealgesellschaft in den „Terra Ignota“-Romanen von Ada Palmer, die sich im Verlauf der Handlung allerdings in einem totalen Krieg selbst zerlegt – dazu mussten das fragile Gleichgewicht nur ein wenig gestört werden.

Die Menschen trauen den Utopien nicht mehr. Oder sie verstehen, dass es immer nur die Idealvorstellungen der Anderen sind, heute sind das am ehesten Science-Fiction-begeisterte Milliardäre wie Elon Musk und Jeff Bezos. Deren rücksichtslos vorwärts preschende Utopien halten wohl 99 Prozent ihrer Mitmenschen für Dystopien. Eine Diskrepanz, die Marc-Uwe Kling sehr schön in seinen Comic-Strip „Elon & Jeff on Mars“ eingefangen hat. Die Dystopie wirkt dagegen wie ein Abwehrzauber – hat man das Schlimmste gedacht, wird man es überstehen können. Das ist ein Irrglaube. Wir brauchen die Utopie. Sie ist kein müßiges Gedankenspiel, sondern der einzige Ausweg.