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Chilly Gonzales im Tanzbrunnen„Summt und ihr werdet nicht sterben“

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Chilly Gonzales am Piano

  1. Chilly Gonzales kehrt nach sechsmonatiger Zwangspause wieder auf die Bühne zurück.
  2. Für sein Corona-Comeback suchte sich der kanadische Pianist den Tanzbrunnen in seiner Wahlheimat Köln aus.
  3. Unsere Konzertbesprechung.

Köln – Ob denn auch alle Handgel oder Spray zum Desinfizieren dabei hätten?, will der Künstler im Kölner Tanzbrunnen wissen. Das bräuchte man jetzt nämlich gleich. Wir sind im ausgelassenen Zugabenteil der großen Chilly-Gonzales-Show, haben die kontemplativen Stücke für Solopiano lange hinter uns gelassen. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der Gonzales unglaubliche Behauptungen („I‘ve got an extra testicle!“) und auch komplett nachvollziehbare („Like Ozzy Osbourne I was born to perform“) rappend aneinanderreiht. In der sich der Liebhaber pastoraler und romantischer Stimmungsmusik in einen HipHop-Mr. Hyde verwandelt und sich auch schon mal der Länge nach ins Publikum wirft, das ihn bereitwillig auf Händen trägt. Allein, das Crowdsurfen widerspräche sämtlichen Coronaregeln. Bis zum ersehnten Exzess könnten noch Jahre vergehen.

Zum Glück hat Gonzales eine Lösung gefunden, mit Desinfektionsgel. Er hat sich einen wattegefüllten Avatar gebastelt, komplett mit Morgenmantel und Struwelhaar. Ein Chilly-Nubbel! Nach bald zehn Jahren als Kölner Immi musste ja etwas vom hiesigen Brauchtum auf den Kanadier abfärben. Der Chilly-Nubbel wird nun also von desinfizierter Hand zu desinfizierter Hand weitergereicht, während sein Widerpart aus Fleisch und Blut beherzt in die Tasten haut. Und landet schließlich wieder auf der Bühne, ein schwarzer Flokati-Fetzen, der unterwegs verloren gegangen ist, wird ihm von einem hilfreichen Zuschauer nachgetragen und auf den Kopf gelegt. „No“, empört sich der echte Gonzales, „that‘s Brüsthaare, man, that‘s obvious!“ „Brüsthaare“, das sollte man sich schon einmal für die nächste Duden-Ausgabe vornotieren.

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Dabei hatte zwei Stunden zuvor alles so beschaulich angefangen. In aller Ruhe hatte Gonzales jede einzelne Taste seines Klaviers mit einem Feuchttuch desinfiziert, hatte sich darauf stumm an den Flügel gesetzt und eine Auswahl seiner sehnsuchtsvollen Sonntagsnachmittagsspaziergang-Melodien gespielt, während zuerst kreischende Möwen, dann der noch lautstärkere Kölner Schwarm grüner Halsbandsittiche die Faltschirme des Tanzbrunnens scharf umkreisten. Das hatte beinah etwas von einem Kurkonzert, zu jener lange vergangenen Zeit, als Europas Bäder noch der Gipfel des Mondänen waren.

Der heutige Abend sei ein ganz besonderer für ihn, conferencierte Gonzales sodann: „Das ist mein erstes Live-Konzert seit sechs Monaten. Und wo sonst sollte ich auf die Bühne zurückkehren, als in meiner Heimatstadt Köln.“ Allgemeine Rührung. Als Gonzales per Handzeichen abfragt, für wen dies auch das erste Konzert seit Ausbruch der Pandemie sei, schnellen fast alle Arme hoch.

Neue Lockdown-Stücke

Wie schon seit einigen Jahren wird der Pianist von der Cellistin Stella Le Page und später noch vom Schlagzeuger John Flory begleitet, der zuerst nur die Bühne betritt, um einmal kurz die Triangel anzuschlagen. Gonzales spielt auch ein paar neue Stücke, die er während des Lockdowns komponiert hat, unter anderem ein Trio für Klavier, Cello und Klarinette, bei dem er singend den Part des fehlenden Klarinettisten übernimmt. Und er dengelt lustvoll auf einem Casio-Keyboard herum und bricht damit seine eigene Regel, nach der er keine elektronischen Instrumente auf der Bühne verwendet. Aber er will zeigen, wie er die langen Monate zu Hause verbracht hat, ohne Publikum. Als er einmal kurz den Basslauf von Queens „Another One Bites the Dust“ laufen lässt und der Tanzbrunnen sofort anfängt mitzuklatschen, grinst er hämisch in die Runde und sagt: „Ich habe völlig vergessen, wie leicht ihr zu manipulieren seid.“

Unhörbarer Jazz

Später lästert er noch über zeitgenössischen Jazz („unhörbar“), reduziert Dave Brubecks „Take Five“ vom Fünfviertel- auf den walzernden Dreivierteltakt und widmet dem vergeigten Sommer eine ganz besondere Elegie, in dem er die (ziemlich schreckliche) Gesangsspur von „Summer of 69“ seines Landsmannes Bryan Adams mit wehmütigen Akkorden unterfüttert. Doch Wehmut ist hier nicht die vorherrschende Stimmung, im Gegenteil, das Konzert ist ein kleiner Triumph gegen die widrigen Umstände. „Music is back, Baby!“, ruft ein gelöster Gonzales am Ende aus. Dann lässt er das Publikum, das aerosolbedingt nicht mitsingen darf, einfach geschlossenen Mundes mitsummen: „Summt und ihr werdet nicht sterben.“