Das Concertgebouw-Orchester aus Amsterdam beweist mit der Sopranistin Chen Reiss in der Philharmonie seine Klasse.
Concertgebouw-Orchester in der PhilharmonieKaum zu überbietende Klasse
Chen Reiss ist in diesen Tagen und Wochen wirklich nicht zu beneiden. Die illustre Sopranistin selbst wohnt in London, aber große Teile der Familie leben in Israel, zwei Geschwister wurden, im Zuge des Gaza-Krieges, zur Armee eingezogen. Dass sie sich unter diesen Umständen überhaupt noch – wie jetzt im Konzert des Concertgebouw-Orchesters in der Kölner Philharmonie – konzentriert ihrem beruflichen Metier widmen kann, verdient in jeder Hinsicht Bewunderung. Das vorab!
Und wenn bei diesem Auftritt der Funken nicht so richtig überspringen wollte, dann mag das auch an den skizzierten außermusikalischen Rahmenbedingungen liegen – wobei in jedem Fall über die Gründe, warum ein Konzert im Augenblick des konkreten Geschehens ge-, halb oder misslingt, nur spekuliert werden kann. Es ist irgendwie brutal, aber bei der Beurteilung einer künstlerischen Leistung zählt letztlich dann doch im Wesentlichen das Ergebnis.
Faszinierende Geschwisterbeziehung
Reiss widmete sich auch in Köln einer Konstellation, die sie seit einiger Zeit beharrlich „besingt“: der – in der Tat faszinierenden – Geschwisterbeziehung von Fanny und Felix Mendelssohn. Von beiden interpretierte sie die Gesangsszenen „Hero und Leander“ (aus Fannys) und „Infelice!“ (aus Felix‘ Feder), zwei ausdrucksstarke, melodisch-klanglich berückende Werke, die direkt von der Opernbühne in den Konzertsaal entsprungen scheinen. In ihrer internen Steigerungsdramaturgie, die freilich Vorbildern der Wiener Klassik folgt – genauer: in der Abfolge von Accompagnato, langsamem lyrischen und erhitztem Schlussteil –, ähneln sie einander übrigens.
Alles zum Thema Kölner Philharmonie
- Mao Fujita in Köln Ein Spektakel, aber bei Mozart konnte man misstrauisch werden
- Sarah Wegener und Götz Payer in der Philharmonie Ein breites Spektrum an Glückszuständen
- Gürzenich-Konzert Eine Sternstunde dank Michael Sanderling und Gil Shaham
- Rudolf Buchbinder in Köln Eine Brahms-Aufführung von herausragender Qualität
- Philharmonie Köln Zentralwerke der slawischen Romantik
- „Musik der Zeit“ in der Kölner Philharmonie In der Küche des Menschenfressers
- Midori in der Philharmonie Ein Spiel, das bei sich bleibt und aufgesucht werden will
Just an der wirkungsstarken Umsetzung dieser dramatischen Eskalation nun ließ Reiss es ein wenig mangeln. Am überzeugendsten in ihrer expressiven Dichte, der Phrasenspannung, den schön angesetzten Höhen wie der klangvoll eingesetzten Altlage gelangen jeweils die langsamen Teile, in den schnellen hingegen fehlte es an Glut, direktem Biss, Rückhaltlosigkeit. Hier hätte die Bremse losgelassen werden, hätte mehr kommen müssen als distinguierter Wohlklang. Da stimmte dann auch die Balance von Singstimme und Orchester nicht mehr, eher defensiv in ihrer Performance drohte Reiss akustisch ins Off zu geraten.
Der Finne Klaus Mäkelä überzeugt am Pult
Dabei fand sie im Fall von „Infelice!“ im Konzertmeister, der das Violinsolo spielte, einen in seiner Einfühlsamkeit und Klangkultur herausragenden Partner. Der übergab damit freilich nur gleichsam die Visitenkarte eines Orchesters, dessen Spielqualität auch an diesem Abend den Ruf der Niederländer als einer der weltbesten sinfonischen Klangkörper bestätigte und festigte. Dafür war freilich auch der vom legendären Dirigentenmacher Jorma Panula ausgebildete Finne Klaus Mäkelä am Pult verantwortlich, der 2027 bei ihnen Chefdirigent wird, womit man in Amsterdam einen ausgezeichneten Griff tut.
Gleich das Eröffnungsstück, Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre, zeigte in der Kombination von kristallheller Partiturdarstellung, plastischer Entwicklung der unterschiedlichen Charaktere und einem hohen, aber stets kontrollierten Energieinput eine kaum überbietbare Klasse. Nämliches galt für die souveräne Brillanz, die wie mit einem feinen Messer gezogene Streicherfiguration und die wunderbaren Streicher/Bläser-Wechseleffekte im Scherzo aus der „Sommernachtstraum“-Musik – und schließlich für Beethovens „Eroica“ nach der Pause.
Ein Klassiker aus dem Geist nordischer Klarheit, von überragender Folgerichtigkeit in der Kontrastdarstellung von Spannung und Lösung, Zerfall und Triumph, Stauung und Attacke. Am eindringlichsten geriet in diesem Sinne vielleicht das Scherzo. Hier spielten die drei Hörner so fabelhaft auf, dass man ihnen ihre etwas aufdringliche Dominanz über die Strecke rundum verzeihen konnte, ja musste.