Die israelische Sopranistin Chen Reiss singt am 22. Dezember in der Philharmonie. Im Gespräch erzählt sie, was ihr Musik in Zeiten des Krieges gibt - und was nicht.
Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss„Musik ist nicht dazu da, Kriege zu lösen“
Frau Reiss, ich würde mich mit Ihnen am liebsten sofort über Musik unterhalten, über Fanny und Felix Mendelssohn, die Sie am 22. Dezember mit dem Concertgebouw Orchester in Köln aufführen. Das ist leider nicht möglich, wir müssen über Krieg sprechen, über den Krieg im Nahen Osten. Sie leben mit Ihrer engeren Familie in England, aber Ihre Verwandten – Eltern, Geschwister – leben in Israel. Zwei Geschwister bei der Armee, täglicher Raketenbeschuss durch die Hamas – wie ertragen Sie das, wie können Sie da überhaupt noch an Musik denken? Und, vor allem, Musik „machen“?
Chen Reiss: Ich ertrage es kaum. Es gibt Momente, in denen die Traurigkeit, die Sorgen, die Wut und die Verzweiflung mich überwinden. Ich bin überhaupt nicht optimistisch, was die Zukunft uns allen bringt (nicht nur im Nahen Osten, sondern auch im Westen). Ich glaube, wir brauchen stärkere Führungspersönlichkeiten, die mutige und visionäre Entscheidungen treffen werden. Die Musik, meine Familie, meine Schüler und liebevolle Freunde sind meine Rettung in den vergangenen schrecklichen zehn Wochen. Musik und Liebe sind die einzigen Dinge, die für mich noch einen Sinn ergeben und für die es sich zu leben lohnt. Also singe ich weiter und teile mein Wissen über das Singen und meine Musik mit so vielen Menschen wie möglich. Das beschäftigt meinen Geist und bringt mich auf kreative und positive Gedanken und nicht auf den Schund und das Gift, das die sozialen Medien verbreiten, und hebt gleichzeitig die Stimmung der Menschen um mich herum. Das Leben ist so kurz, das haben wir alle kürzlich gelernt, und ich möchte keinen einzigen Tag ohne Musik in meinem Herzen verbringen.
Chen Reiss | Concertgebouworkest | Klaus Mäkelä
Kölner Philharmonie
Ich höre immer wieder, dass Musik gerade jetzt, in dieser katastrophalen Weltsituation, wichtig ist. Aber stimmt das wirklich? Wir sehen doch, dass Musik und Musizieren Kriege nicht verhindert, platt gesagt: uns gerade nicht zu besseren Menschen macht. Ethik und Ästhetik folgen, wie es aussieht, unterschiedlichen Codes: Das Schöne und das Gute sind nicht dasselbe. Gerade für eine ausübende Künstlerin muss das doch eine schreckliche Erkenntnis sein…
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Musik ist nicht dazu da, Kriege zu lösen. Wenn sie die Macht dazu hätte, dann würden Musiker so viel Geld verdienen wie die Politiker, und unsere Arbeitsplätze wären so sicher wie ihre. Aber immerhin leisten wir das, was wir sollen, nämlich den Menschen Hoffnung, Trost und Inspiration zu geben. Wir bringen Schönheit und Sinn in diese chaotische und böse Welt, in der wir leben. Die Fähigkeit, sicher zu leben, frei zu musizieren, unsere Kinder zu erziehen, Erfindungen und Fortschritte zu machen, etwas zu schaffen – dafür bekämpfen wir die Hamas. In schweren Zeiten müssen wir mit Stolz Musik machen, damit unser Lied lauter erklingt als die Verbrechen der Terroristen. Ich glaube, Musik macht uns zu besseren Menschen, weil sie uns zum Zuhören bringt, und das Zuhören ist der erste Schritt zur Lösung von Problemen. Wenn man jedem Kind in Gaza eine Geige schenken würde, hätten wir vielleicht die Chance, diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.
Kritik an Greta Thunbergs Aussagen zum Nahostkonflikt
Nicht nur Israelis, sondern Juden überhaupt sind derzeit überall auf der Welt antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Kriegen Sie das persönlich mit?
Absolut, ich lebe in London, wo wir jeden Samstag große sogenannte Pro-Palästina-Märsche erleben, die dazu aufrufen, Israel auszulöschen, was bedeutet, die neun Millionen jüdischen, christlichen und muslimischen Israelis zu töten, mich eingeschlossen. Persönlicher kann es nicht werden. 20 Prozent der Amerikaner im Alter von 18 bis 29 Jahren leugnen, dass der Holocaust jemals stattgefunden hat, während die gesamte Familie meiner ungarischen Großeltern in Auschwitz vergast wurde. Persönlicher kann es nicht werden.
Wie erklären Sie es sich, dass eine Ikone der Klimabewegung wie Greta Thunberg eine Einstellung „raushängen“ lässt, die als nicht eindeutig antisemitisch zu klassifizieren schwerfallen dürfte? Auf der anderen Seite will es scheinen, dass die Gegenkritik mit dem Antisemitismus-Vorwurf zum Teil etwas „freigebig“ ist. Man kann doch prinzipiell die Politik der rechten bis rechtsextremen und auch für Israel selbst katastrophalen Netanjahu-Regierung kritisieren und zugleich Judenfeindschaft ohne Wenn und Aber bekämpfen…
Wirklich gute Freunde sollten die Möglichkeit haben, konstruktive Kritik zu äußern, ohne sofort als Antisemiten abgestempelt zu werden. Sicherlich bin auch ich keine Befürworterin der Netanjahu-Regierung. Das Problem ist, dass wir uns in einer Zeit befinden, bei der jede/r sich berechtigt fühlt, seine Meinung ohne fundiertes Wissen kundzutun. Dieser Konflikt ist so kompliziert und vielschichtig, dass es unmöglich ist, nur eine einfache Antwort geben zu können. Auch der Fall von Greta Thunberg hat gezeigt, wie kontraproduktiv und gefährlich ihre Aussagen waren. Am Ende hat auch sie sich des neokolonialen antisemitischen Narrativs bedient.
Sehen sie – als Nicht-Politikerin – irgendeinen gangbaren Ausweg aus dem Konflikt?
Ich habe weder das Wissen noch die Ausbildung, um diesen Konflikt zu lösen. Ich bin eine große Befürworterin von Bildung und Dialog, aber das ist leichter gesagt als getan. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Schaffung von Frieden und Stabilität in der Region für Israelis, Palästinenser und die Nachbarländer oberste Priorität haben sollte. Solange der Iran die Fäden in der Hand hält, wird das nicht geschehen.
Chen Reiss tritt am 22. Dezember in der Kölner Philharmonie auf
Jetzt aber endlich zur Agenda Ihres Kölner Auftritts. Sie singen Felix Mendelssohns Konzertarie „Infelice“ und die Szene „Hero und Leander“ aus der Feder seiner Schwester Fanny. Beschreiben Sie zunächst doch bitte einmal Ihre grundsätzliche Beziehung zum Phänomen Mendelssohn – Nietzsche nannte ihn einmal den „schönen Zwischenfall in der deutschen Musik“ – und diese musikhistorisch bemerkenswerte Geschwister-Konstellation…
Eigentlich ziehe ich es vor, das Programm als Präsentation der Dramatischen Szene der brillanten Komponistin Fanny Hensel und einer Konzertarie ihres jüngeren Bruders Felix Mendelssohn zu präsentieren (lacht ironisch). Ich freue mich sehr, meinen Teil dazu beitragen zu können, Fanny Hensel der Öffentlichkeit bekannt zu machen und bin dem Concertgebouw Orchester und Klaus Mäkelä für die Unterstützung dieses Projekts dankbar. Sie ist eine begabte, originelle und kühne Komponistin. Zweifellos war Felix ein Genie, und ich spüre in allem, was er schreibt, ein starkes Gefühl von Spiritualität und Magie.
Gibt es in der Werkzusammenstellung da aus Ihrer Sicht auch ein emanzipatorisches Incentive? Immerhin wollte Felix seiner Schwester ja das Komponieren verbieten…
Felix war ein Mann seiner Zeit, der fest daran glaubte, dass Frauen ihre Kompositionen nicht veröffentlichen sollten. Wir sollten ihn nicht nach den heutigen Maßstäben beurteilen. Die liebevolle und unterstützende Beziehung der Geschwister ist einzigartig und hat zweifelsohne ihre Spuren auch in ihren musikalischen Kompositionen hinterlassen.
Beide Kompositionen sind relativ wenig bekannt, „Hero und Leander“ noch weniger als „Infelice“. In beiden Fällen handelt es sich um hochdramatische Szenen, die aber auch immer wieder, in den langsamen Strecken, den großen lyrischen Atem fordern. Insbesondere „Infelice“ steht dabei deutlich in einer Tradition, die durch Mozarts „Bella mia fiamma“ und Beethovens „Ah, perfido!“ formiert wird. Wie sehen Sie diese Konstellation, den besonderen Reiz, die spezifischen Anforderungen an Stimme und Gestaltungskraft?
Ich glaube, „Infelice“ ist das Stück, das einer Oper am nächsten kommt, das er je geschrieben hat. Es ist theatralisch, poetisch, dramatisch und leidenschaftlich. Ein wahres Meisterwerk und es macht viel Spaß, eine so kapriziöse Figur zu singen. Ich liebe besonders das Duett mit der Obligato-Stimme der Violine. Das beginnende Lamentoso-Violinsolo ist sehr jüdisch, finde ich. Und dann kommt die verratene Primadonna mit ihrem italienischen dramatischen Aufschrei.
Wer ist „besser“ – Felix oder Fanny?
Felix ist geschickter beim Schreiben für Orchester, weil er einfach mehr Übung und Selbstvertrauen darin hatte. Fanny ist meiner Meinung nach mutiger und unkonventioneller. Sie hatten sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, und das merkt man auch in ihren Werken. Das Gute an der Musik ist, dass es kein besser oder schlechter gibt. Es ist eine Frage des Geschmacks und der Stimmung.
Zur Veranstaltung
Chen Reiss tritt am 22. Dezember um 19:00 Uhr mit dem Concertgebouworkest unter Dirigent Klaus Mäkelä in der Kölner Philharmonie auf. Auf dem Programm stehen Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Fanny Hensel und Beethovens 3. Sinfonie. Tickets gibt es hier.
Zur Person
Chen Reiss ist eine israelische Sopranistin. Sie war in der Bayerischen Staatsoper und der Wiener Staatsoper engagiert und trat bereits in renommierten Spielstätten wie dem Théâtre des Champs-Élysées, dem Teatro alla Scala, der Semperoper Dresden oder der Deutschen Oper Berlin auf. Zudem wirkte sie zusammen mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle am Soundtrack für den Film „Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders“ von Tom Tykwer mit. 2023/24 wird Chen Reiss als Artist in Residence beim Rotterdam Philharmonic Orchestra arbeiten.