Silicon Valley – Großer Gebieter. Lautet die deutsche Übersetzung des japanischen Wortes Taikun, das in seiner anglisierten Form bis heute für Industrielle verwendet wird, denen man einen außergewöhnlichen großen Einfluss auf die Gesellschaft nachsagt.
Als die USA nach dem Ende des Bürgerkrieges ihr erstes Goldenes Zeitalter erlebten, wurden Tycoons wie J.P. Morgan, Cornelius Vanderbilt, oder John D. Rockefeller – der erste Dollar-Milliardär der Geschichte – auch als „robber barons“, als Räuberbarone verunglimpft. Zum einen wegen ihrer skrupellosen Geschäftspraktiken, vor allem jedoch, weil sie Reichtum und Einfluss dazu nutzen, sich als Monopolisten an die Spitze der Wirtschaftspyramide zu setzen.
Die Führer der Big-Tech-Unternehmen an der Westküste der USA gelten als die Tycoons unserer Zeit. Gegen ihr Vermögen und die Reichweite ihres Einflusses auf unseren Alltag nehmen sich die Räuberbarone des „Gilded Age“ wie bessere Viehdiebe aus.
Ayn Rands kapitalistische Visionen
Dabei waren sie Visionäre. Denn charismatische CEOs und Innovatoren wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Steve Jobs hatten in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den Schriften der russisch-amerikanischen Autorin Ayn Rand ihre Apotheose erfahren: Die Tech-Tycoons von heute scheinen direkt aus den Seiten von Rands Romanen auf die Weltbühne spaziert zu sein.
Ayn Rands fiktive Superkapitalisten Howard Roark (aus „Der ewige Quell“, 1943), Hank Rearden oder John Galt (aus „Der Streik“, 1957) erheben Egoismus und Rücksichtslosigkeit zu Tugenden, ohne die sich Innovation nicht gegen gleichmacherische Regierungen oder die träge Masse durchsetzen lassen – „second-handers“ nennt sie der geniale Architekt Roark verächtlich: „Die großen Schöpfer, die Denker, die Künstler, die Forscher, die Erfinder – immer standen sie allein gegen die Menschen ihrer Zeit.“
Zum ganz großen Gebieter fehlt Roark jedoch die öffentliche Meinung. Die Zeitungen jedenfalls wettern erbarmungslos gegen ihn. Genau das hat sich freilich grundlegend geändert. Jeder große Tech-Tycoon kann sich inzwischen auf seine eigene Medienmacht stützen.
Der krawalligste Twitter-User ist jetzt der Boss
Schon der Name Elon Musk klingt wie von Ayn Rand erfunden. Gerade hat sich der Tesla-Chef und reichste Mensch der Welt – das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ schätzt sein Vermögen auf 219 Milliarden Dollar – den Kurznachrichtendienst Twitter für 44 Milliarden Dollar gekauft, zu dessen prominentesten und krawalligsten Nutzern er selbst gehört.
Prompt twitterte Musk hochtrabend von der freien Rede als Grundstein der Demokratie, nannte sein neu erworbenes Sprachrohr den wichtigsten digitalen Dorfplatz der Menschheit. Aber wie frei kann eine Rede sein, die sich im Besitz eines einzigen, übermächtigen Geschäftsmannes befindet? Musk hat seinen eigenen Twitter-Account immer wieder benutzt, um den Wert von Tesla-Aktien oder den Kurs von Kryptowährungen zu manipulieren. Oder auch, um einen Höhlenforscher in einem kleinlichen Streit grundlos als Pädophilen zu bezeichnen.
Wenn Musk sich nun als Wächter der freien Rede gebärdet, wer bewacht dann den Wächter?
Selbst ernannter Redefreiheitsradikaler
In Folge des vom Wahlverlierer Donald Trump provozierten Sturms auf das Kapitol hatte Twitter das Benutzerkonto des Noch-Präsidenten mit seinen 90 Millionen Followern gesperrt. Was, wenn der selbst ernannte „Redefreiheitsradikale“ Musk, Trump nun wieder freischaltet?
Tatsächlich hat sich der Tycoon mit seinem spektakulären Kauf nur in eine Position gebracht, in der seine Mitbewerber längst sind: Amazon-Gründer Jeff Bezos hat 2013 für gerade mal 250 Millionen Dollar die „Washington Post“ erworben, auch wenn der zweitreichste Mensch der Welt sich seitdem vom Tagesgeschäft der Zeitung fernhält.
Gegen die Medienmacht des Meta-CEOs Mark Zuckerberg wiederum wirken Musk und Bezos wie kleine Fische. Auch wenn Zuckerberg auf der Reichenliste auf Platz 15 abgerutscht ist, er hat weiterhin das letzte Wort, wenn es darum geht, was Milliarden von Facebook-, Messenger-, Instagram- oder WhatsApp-Nutzern an Inhalten zu sehen bekommen und was nicht.
Das könnte Sie auch interessieren:
Und verblassen Facebook und Co nicht wiederum gegen die allumfassende Macht von Google, beziehungsweise Alphabet, dem Mutterunternehmen der Suchmaschine?
Die Räuberbarone unterhöhlten die Demokratie durch Monopolbildung und Korruption, ihre Methoden waren so krude wie das Erdöl, das sie förderten. Zeitgenössische Karikaturen stellten ihre verzweigten Unternehmen als gierig um sich greifende Oktopusse dar. Es scheint, als führe eine direkte Linie zu der Metapher von den Datenkraken des Silicon Valley.
Wer entscheidet, wer etwas weiß?
Die sind jedoch von einer fundamental anderen Qualität. Die Tycoons von heute streben weniger Marktmonopole, als Wissensmonopole an. In ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ hat die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff die entscheidenden Fragen formuliert: „Wer weiß? Wer entscheidet, wer weiß? Wer entscheidet, wer entscheidet, wer weiß?“
Die Antwort auf jede dieser Fragen lautet derzeit Google, Facebook, etc. Die Überwachungskapitalisten, schreibt Zuboff, beanspruchten die Autorität zu entscheiden, wer etwas weiß, „indem sie Eigentumsrechte an unseren persönlichen Informationen geltend machen“. Die freie Rede müssen die modernen Tycoons also gar nicht kontrollieren – sie können sich sogar, wie Musk, als ihre Verteidiger gebärden –, so lange wir ihnen die Besitzrechte an den Daten überschreiben, die wir frei postend, googelnd, twitternd hinterlassen.