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Familienstück im Schauspiel KölnFür diese „Momo“ sollte man sich Zeit nehmen

Lesezeit 5 Minuten
MOMO
Familienstück
von Michael Ende
Regie: Ildikó Gáspár
 
Regie: Ildikó Gáspár
Bühne: Lili Izsák
Kostüme: Luca Szabados
Musik & Komposition: Tamás Matkó
Video: András Juhász
Choreografie: Veronika Szabó
Licht: Jürgen Kapitein
Dramaturgie: Bassam Ghazi, Johanna Rummeny
 
Foto: Thomas Aurin

Maddy Frost (l.) und Nicola Gründel in „Momo“

Michael Endes Kinderbuchklassiker wird derzeit wieder viel gespielt. Die Version im Depot 1 bleibt nah am Buch und dessen melancholischer Stimmung.

„Momo“, Michael Endes Kinderbuchklassiker aus dem Jahr 1973, erlebt seit einiger Zeit eine kleine Theater-Renaissance. Allein in Köln kann man Adaptionen des Stoffes derzeit im Orangerie-Theater, im Latibul und jetzt auch im Depot 1 der städtischen Bühnen erleben. Woran das liegt? Vielleicht, an dem Gefühl, dass die Grauen Herren des Romans wieder auf dem Vormarsch sind. Die Erklärung der Zigarren rauchenden Zeitdiebe, nach der die Menschen selbst die Welt so weit gebracht haben, dass für sie kein Platz mehr ist, dass sie überflüssig sind, leuchtet jedenfalls immer noch ein.

Vielleicht war das antikapitalistische Märchen aber auch nie ganz weg, trotz des Hippie-Kitsch-Verdachts, unter dem es in den abgeklärten 1990ern stand. Selbst Tocotronics berüchtigter Schmäh-Song „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“ bot neben aller Kritik auch eine versteckte Hommage: „Michael Ende, nur du bist schuld daran/Dass aus uns nichts werden kann/Du hast uns mit deinen Tricks/Aus der Gesellschaft ausgeext“, sang Dirk von Lotzow und war offensichtlich durchaus einverstanden mit diesem Ergebnis. Der Titel des zugehörigen Albums klingt, als hätte sich Momo bei ihrem Kampf gegen die Grauen Herren Hilfe bei Marcel Proust geholt: „Nach der verlorenen Zeit“.

Lange Zeit hat es am Schauspiel Köln kein Familienstück mehr gegeben

Lange Zeit hat es kein Familienstück mehr gegeben am Schauspiel Köln, die Stadt hat ja auch sonst ein recht breites Angebot an Kinder- und Jugendtheater. Andererseits stehen selbst die größten Häuser heutzutage unter einem gewissen Rechtfertigungszwang, das Abo-Publikum wächst längst nicht mehr automatisch nach. Die Idee einer kostspieligen Kunstform, die man sich als Gemeinschaft einfach leistet, ist selbst vom grauen Effizienzdenken bedroht.

Alles zum Thema AWB

Die ungarische Regisseurin Ildikó Gáspár hat die Bühnenfassung ihrer Kölner Inszenierung selbst erstellt und bleibt doch ganz nah an der Romanvorlage. Nicht allein im Sinne der Handlungsabfolge, Gáspár trifft auch den melancholischen Ton von „Momo“. Und wo Michael Ende seine Geschichte mit eigenen Illustrationen sinnlich aufwertete, verleihen hier die Kompositionen von Tamás Matkó dem dramatischen Geschehen die nötige Portion Extra-Funkeln.

MOMO
Familienstück
von Michael Ende
Regie: Ildikó Gáspár
 
Regie: Ildikó Gáspár
Bühne: Lili Izsák
Kostüme: Luca Szabados
Musik & Komposition: Tamás Matkó
Video: András Juhász
Choreografie: Veronika Szabó
Licht: Jürgen Kapitein
Dramaturgie: Bassam Ghazi, Johanna Rummeny
 
Foto: Thomas Aurin

Momo und ihre Freunde im Depot 1

Nicola Gründel und Anja Laïs stolpern als Erzählerinnen-Duo auf die leere Bühne, es reichen wenige Takte am Flügel von Gründel, schon befindet man sich inmitten des verfallenen Amphitheaters, in dem das alters- und elternlose Mädchen nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen weiß, als den Geschichten ihrer Besucher zu lauschen. Maddy Frost verleiht der Titelrolle die nötige positive Präsenz, scheinbar mühelos nimmt sie die Mitte ein, um die alle anderen Geschichten kreisen: Der ewige Zwist zwischen Niccolo (Leon Wieferich) und Nino (Lou Friedmann), die schrulligen Impressionen von Beppo Straßenkehrer (Andreas Grötzinger), die forsch vorgetragenen Münchhausiaden von Gigi Touristenführer (Thomas Brandt).

Man nimmt sich Zeit füreinander und auch das junge Publikum wird miteingebunden, ohne dass das allzu angestrengt wirkt. Yuri Englert, der als Friseur Fusi von Höherem träumt, wird zum ersten Opfer der Grauen Herren, die in ihren gesteppten Mänteln, Skibrillen und faltigen Glatzen (Kostüme: Luca Szabados) von wechselnden Ensemblemitgliedern gespielt werden. Ein Zeit-Agent rechnet Fusi vor, wie viel Zeit er für Dinge verschwendet, die ihm in der Excel-Tabellen-Ansicht des Lebens nichts bringen: Den Klatsch bei der Arbeit, die Abende mit Freunden – alles streichen. Die Mutter kommt ins Altenheim, der Wellensittich soll sehen, wo er bleibt. Die Zeit kann man sich sparen.

Der wahre Spezialeffekt ist das fantastische „Momo“-Ensemble

Die Rechnung wird dem Friseur auf der riesigen Videoleinwand im Hintergrund präsentiert, zugleich senkt sich eine Spiegelwand aus dem Bühnenhimmel: Die Menschen, denen man gerade noch ins Angesicht geblickt hat, erscheinen dort in Draufsicht, als statistische Menge (Bühne: Lili Izsák). Solche Schauwerte mögen ein unfairer Vorteil der städtischen gegenüber den freien Bühnen sein, aber warum soll das Theater nicht mit seinen Gewerken wuchern? Der wahre Spezialeffekt bleibt doch das fantastische Ensemble. Englerts leicht genervter Stoizismus, erst als übervorteilter Friseur, später als Polizist, der das eigene Spiegelbild für seinen Buddy-Cop hält. Oder Thomas Brandt, der als erzählwütiger Gigi die schönsten Gesangseinlagen liefert, aber ebenso überzeugend den erfolgsverwöhnten, aber innerlich abgestorbenen Star gibt, auch er hat seinen Deal mit den Grauen Herren schnell bereut.

Beppo Straßenkehrer könnte als grenzwertig sentimentale Figur den älteren Teil des Publikums leicht nerven, aber Andreas Grötzinger nimmt man die quasi-buddhistische Tiefe dieses AWB-Heiligen sofort ab. Nie dürfe man, so Beppo, versuchen, eine lange Straße in Eile zu kehren, da kommt man nur außer Puste: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken. Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich.“

Daran hält sich auch Ildikó Gáspár: Das Finish lädt zur rasenden Hatz ein, manche Szenen mit dem Grauen Herren erinnern an „The Matrix“, gewissermaßen die Kampfsport-Version von „Momo“. Und schließlich hat Meisterin Hora (Anja Laïs, jetzt ganz enigmatisch), die im Nirgendhaus residierende Zeit-Verwalterin, unserer jungen Heldin nur eine Stunde gewährt, um die Grauen Herren zu besiegen. Was Momo nur dank Horas Helferin, der Schildkröte Kassiopeia, gelingt. Die aber mahnt immer wieder zur Eile mit Weile, nur so kommt man ans Ziel. „Sie trägt ihre eigene kleine Zeit in sich“, hatte Michael Ende einmal seine Faszination für Schildkröten begründet – und genauso spielt Nicola Gründel die Kassiopeia.

Am Ende, nach dem donnernden Applaus, bleibt sogar noch Zeit für ein Lied. 5400 Sekunden sind laut Programmheft vergangen, die bekommen die Grauen Herren nicht mehr wieder.