Putins Botschafter Netschajew darf im Deutschlandfunk Desinformation verbreiten. Nicht nur ukrainische Diplomaten reagieren entsetzt.
Gespräch mit Putin-Botschafter„Propagandalawine“ – Deutschlandfunk-Interview sorgt für Kritik und Entsetzen
Ein Interview des Deutschlandfunk (DLF) mit dem russischen Botschafter in Deutschland hat eine Kritikwelle ausgelöst. Am Dienstagmorgen hatte der Sender das Gespräch mit Sergej Netschajew gesendet und das Interview im Wortlaut auf seiner Webseite veröffentlicht. Schnell wurden danach Vorwürfe gegen den Sender und den Interviewer Moritz Küpper laut. Das Gespräch sei „zahnlos“ und „ein Lehrbeispiel, warum man Vertretern des Terrorstaates keine Bühne für Propaganda bieten sollte“, erklärte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, im sozialen Netzwerk X.
Seit 2014 höre man stets dieselben russischen Lügen, erklärte der Botschafter. „Propaganda muss entlarvt, nicht weiterverbreitet werden“, fügte er an. Auch der ukrainische Diplomat Olexander Scherba kritisierte den Sender mit scharfen Worten. Der DLF habe „einem Vertreter eines kriminellen Regimes“ die Möglichkeit gegeben, „Aggression, Okkupation, Massentötungen, Vergewaltigungen, Kastrationen und Enthauptungen zu rechtfertigen“, erklärte Scherba und fügte ironisch an: „Eine ‚tolle‘ Idee! Echter Journalismus.“
Kritik am Deutschlandfunk: „Was haben Sie sich dabei nur gedacht?“
Scharfe Kritik gab es unterdessen auch von Politikwissenschaftlern und Historikern. „Was haben Sie sich dabei nur gedacht?“, fragte Martina Winkler bei X. Küpper habe sich von Netschajew in dem Interview „demütigen“ und „abkanzeln“ lassen, kritisierte die Historikerin weiter. „Das Ganze dürfte als symptomatisch für das deutsche Verhalten gegenüber Russland in die Geschichtsbücher eingehen.“
Der Sicherheitsexperte Gustav Gressel sprach derweil von einer „russischen Propagandalawine“, beim Deutschlandfunk habe es ein „multiples redaktionelles Organversagen“ gegeben, lautete Gressels Kritik weiter. „Es gibt darin nichts, was wir nicht aus Interviews mit Putin, Lawrow oder Peskow schon gehört haben“, befand derweil der Politikwissenschaftler Carlo Masala.
Netschajew-Interview: „Propagandalawine“ im Deutschlandfunk
Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sprach von „zwanzig Minuten Kremlpropaganda im Deutschlandfunk“. Netschajew habe „unwidersprochen“ die russischen Verbrechen „bemänteln“ dürfen, das sei „schrecklich und inakzeptabel“, schrieb Kowalczuk bei X.
Der Historiker Matthäus Wehowski flüchtete sich unterdessen angesichts der Interviews in Sarkasmus. „Am 85. Jahrestag des sowjetischen Einmarsches in Polen ein ‚Interview‘ mit Russlands Propaganda-Sprechpuppe zu führen, ist eine wirkliche Glanzleistung“, schrieb der Russland-Experte bei X. Der Deutschlandfunk habe „genozidale Trunkenheit steuerfinanziert serviert“, kritisierte derweil der Politikwissenschaftler Andreas Umland.
„Gut, dass der Deutschlandfunk ein nüchternes Interview sendet“
Es gab jedoch auch Zuspruch für das Interview mit Botschafter Netschajew. „Natürlich bedarf das der kritischen Einordnung, aber es ist gut, dass der Deutschlandfunk ein nüchternes Interview mit dem russischen Botschafter in Deutschland sendet“, erklärte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick.
Es gelte, die „russische Sicht zu verstehen“, führte Varwick aus. Das Interview zeige auf, zu welchen Bedingungen Russland zu Verhandlungen bereit sei. Auch der ehemalige Online-Chef des früheren russischen Propagandasenders RT Deutsch, Florian Warweg, lobte den Sender bei X dafür, „verschiedene Perspektiven“ zu Wort kommen zu lassen.
Deutschlandfunk veröffentlicht kritische Überprüfung von Netschajew
Netschajew hatte sich in dem Interview unter anderem zu den Aussichten für einen diplomatischen Friedensprozess für Russlands Krieg gegen die Ukraine geäußert. Der Botschafter machte dabei jedoch erneut klar, dass Russland die Friedensformel Kiews nicht anerkenne und behauptete fälschlicherweise, Wolodymyr Selenskyj sei nicht mehr legitimer Präsident der Ukraine.
Die Friedensformel von Selenskyj setzt einen russischen Abzug vom ukrainischen Staatsgebiet voraus, was Moskau kategorisch ablehnt. Auch zu den frühen Verhandlungen in Istanbul kurz nach Beginn des russischen Überfalls verbreitete Netschajew Falschinformationen.
„Das ist das Prinzip der russischen Desinformation“
Der Deutschlandfunk veröffentlichte später eine Nachbesprechung des Interviews. Gesine Dornblüth, ehemalige Moskau-Korrespondentin des Senders, räumte dort mit einigen Falschdarstellungen von Botschafter Netschajew auf.
Angesichts mancher Ausführungen des russischen Botschafters sprach Dornblüth dabei von einem „Paradebeispiel“. Je komplizierter Themen seien, desto einfacher sei es, Falschinformationen zu verbreiten, erklärte die DLF-Journalistin. „Das ist das Prinzip der russischen Desinformation“, fügte sie an.