Michael van der Aas Kammermusiktheater „The Book of Water“ wurde in der Biennale di Venezia uraufgeführt, nun kam es auch nach Köln.
Kammermusiktheater „The Book of Water“Geschichte einer Demenz
Dank elektronischer Verstärkung sirrt und schwirrt das Streichquartett durch das Rund der Philharmonie, als höre man im eigenen Schädel die Nervenbahnen und Synapsen funken. Was anfangs leuchtet und flirrt, sinkt jedoch bald zu trüber Dauerbegleitung herab. In Michel van der Aas einstündigem Kammermusiktheater „The Book of Water“ dominieren fortan Film und Erzähler. Die Musik wird zur Seite geschoben, auch konkret ganz rechts auf der Bühne.
Das 2022 bei der Biennale di Venezia uraufgeführte und nun erstmalig in Deutschland gespielte Stück basiert auf Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Der Prosatext von 1979 dokumentiert die verzweifelten Versuche eines an Demenz erkrankten Mannes, sich seines schwindenden Gedächtnisses durch Notizen und Lexikonartikel zu versichern.
„The Book of Water“ in der Kölner Philharmonie
Dem inneren Zerfall seines Bewusstseins entspricht dabei die äußere Erosion von sintflutartigen Regengüssen und Bergrutschen, die den alten Mann von Fernsehen, Telefon und Außenwelt trennen. Der 1970 geborene Komponist verlegt die in den Schweizer Alpen spielende Handlung jedoch kurzerhand ins Flachland seiner niederländischen Heimat, sodass manche Textstellen über Gebirge, Fels und Adlerflug ihren Sinnzusammenhang verlieren.
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Der britische Schauspieler Samuel West verkörpert im Film eindrucksstark den Greis. Der Schauspieler vor Ort ist sein Sohn Timothy West. Ihre beiden anfangs getrennten Welten greifen infolge eines Schlaganfalls der Hauptfigur plötzlich ineinander. Zeigte der Film zunächst die häusliche Umgebung des alten Mannes, spiegelt er nun dieselben Glas- und Trennwände wie auf der Bühne. Realität und Projektion verknüpfen sich und ziehen wie die fortschreitende Demenz einen geschlossenen Raum um die darin gefangenen Figuren. Wie der Kranke verliert auch das Publikum im illusionären Raum-Zeit-Kontinuum den Sinn für vorher und nachher, innen und außen, Sinn und Zweck isolierter Gegenstände und Handlungen.
Ensemble Modern als Begleitmotor zur Hauptfigur
Die vier Streicher des Ensemble Modern agieren als unablässig arbeitender Begleitmotor zum immer leerer laufenden Aktionismus der Hauptfigur. Ständig werden Artikel aus Büchern geschnitten, um damit den Dachstuhl zu tapezieren. Unvermutetes Innehalten wirkt dagegen wie ein lichter Geistesmoment, als käme der alte Mann nochmals zu sich.
Als endlich die Straßensperrung beseitigt ist und die Tochter zu ihrem Vater durchdringt, singt Sopranistin Mary Bevan im Film zwei Arien voll Liebe und Traurigkeit. Die Geschäftigkeit der Streicher ist dann wie weggefegt. Stattdessen weiten ruhige Soli und elektronische Zuspielungen den Klangraum zu irrealen Sphären. Meistens jedoch verhält sich die Musik ohne eigenständigen Ausdruck und Kommentar beiläufig zu Film und Sprechtext. Am Ende ist sie dann – kongenial zur Demenzgeschichte – auch schon wieder vergessen.