Die isländische Premierministerin hat „Reykjavik“ mit ihrem Freund, dem Bestseller-Autor Ragnar Jónasson geschrieben. Ein Interview über Krimis, Vulkane, Frauenstreiks und Massentourismus.
„In Island findet das niemand bizarr“Isländische Premierministerin stellt ihren Thriller „Reykjavik“ in Köln vor
Stellen Sie sich vor, Olaf Scholz würde zusammen mit Frank Schätzing einen Thriller schreiben und im Ausland bei Literaturfestivals auftreten. Während seiner Amtszeit. Undenkbar? Undenkbar! In Island nicht. Dort hat Premierministerin Katrin Jakobsdóttir zusammen mit Ragnar Jónasson, einem der bekanntesten Autoren der Insel, einen Krimi geschrieben: „Reykjavik“ war 2022 der bestverkaufte Titel in Island. Vor wenigen Tagen ist das Buch in deutscher Übersetzung erschienen und dem Team der lit.Cologne der Coup gelungen, das isländische Duo für einen einzigen Auftritt in Deutschland nach Köln zu holen.
Am sehr frühen Sonntagmorgen nach einem überaus kurzweiligen Abend in der Stadthalle in Mülheim haben Jakobsdottir und Jonasson im Hotelfoyer Zeit für ein Interview. Ob ihr Rückflug einige Stunden später tatsächlich stattfinden wird, ist da noch unsicher: Es stürmt gewaltig auf der Insel.
Ist Ihnen beiden bewusst, dass Ihre Konstellation extrem ungewöhnlich ist?
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Jakobsdóttir: Also, in Island findet das niemand bizarr. Alle wissen, dass ich Literaturwissenschaften studiert und mich wissenschaftlich mit Krimis beschäftigt habe. Alle wissen, dass Ragnar mein Freund ist.
Jónasson: Aber außerhalb des Landes sind tatsächlich viele erstaunt darüber, dass eine Premierministerin die Zeit und das Interesse hat, einen Krimi zu schreiben. Es gab auch schon den Verdacht, dass das ein Publicity-Stunt ist und Katrins Name nur auf dem Titel steht, damit das Buch Aufmerksamkeit bekommt. Dabei würde sie niemals ihren Namen für etwas hergeben, das sie nicht selbst geschrieben hätte. Aber auch das hören wir nur im Ausland. In Island würde niemand infrage stellen, dass wir das Buch zusammen geschrieben haben.
Jakobsdóttir: In Großbritannien wurde mir gesagt, dass sich dort nie ein Premierminister trauen würde, ein Buch zu schreiben – weil die Opposition das sofort nutzen würde, um den politischen Gegner niederzumachen.
Jónasson: Das sind wir einfach nicht gewohnt. Auf Island geht es in der Politik sehr viel freundlicher und kooperativer zu.
Jakobsdóttir: Und humaner.
Jüngst haben rund 100.000 isländische Frauen 24 Stunden lang ihre Arbeit niedergelegt, um für Lohngerechtigkeit zu demonstrieren. Das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Sie haben als Premierministerin mitgestreikt. Das wäre in Deutschland ebenfalls undenkbar.
Jakobsdóttir: Das war eine tolle Aktion, die übrigens nichts aus dem Nichts kam. 1975 hatten wir schonmal einen gewaltigen Frauenstreik, der unser Land stark verändert hat. Fünf Jahre später bekam Island die erste demokratisch gewählte Präsidentin der Welt, eine alleinerziehende Mutter. Wir hätten in Island niemals so viel für Geschlechtergerechtigkeit erreicht, wenn es nicht so viel Solidarität unter Frauen gäbe. Deswegen fand es in Island auch jeder normal, dass die Premierministerin mitstreikt. Nur aus dem Ausland haben mich viele Fragen dazu erreicht.
Woher kennen Sie beide sich? Wie kam die Idee zu dem Buchprojekt?
Jónasson: Als ich 2009 anfing, Bücher zu schreiben und das Iceland-Noir-Krimi-Festival mit ins Leben gerufen habe, war Katrin eine der ersten Gästen auf dem Podium. Wir saßen auch zusammen in einer Jury, die die besten Krimis auswählt. Vor ein paar Jahren sprachen wir dann zum ersten Mal darüber, warum sie nicht mal einen Krimi schreibt.
Jakobsdóttir: Ragnar hatte die Idee schon lange Zeit. Ich habe irgendwann zugesagt, allerdings ohne einen Plan, wie ich das zeitlich bewältigen soll. Als 2020 dann Corona kam, die ersten enorm anstrengenden Monate vorbei waren und man abends eh nichts tun konnte außer Netflix gucken, da fingen wir an mit dem Schreiben. Der Krimi war meine Psychotherapie während Corona.
Ein auf einer winzigen Insel vor Reykjavik verschwundenes 15-jähriges Mädchen in den 1950er Jahren steht im Zentrum des Buchs. Das Ereignis wird zu Islands berühmtestem ungelösten Fall. Erst 30 Jahre nach dem rätselhaften Verschwinden machen sich ein junger Journalist und seine Schwester erneut daran, dem Verbrechen dahinter auf die Spur zu kommen. Der Kölner Musiker und Schauspieler Gerd Köster liest beim lit.cologne-Spezial-Abend zwei längere Passagen aus „Reykjavik“. Moderatorin Angela Spizig will von Jakobsdóttir wissen, wo denn ihr Bodyguard sei. Das sei ihr Freund Ragnar, antwortet die Politikerin scherzhaft. Island zähle zu den friedlichsten Ländern der Welt, selbst hochrangige Politikerinnen müssten nicht geschützt werden. Der hohen Produktion von Krimis und Thrillern im Land stünden nur sehr wenige reale Morde gegenüber. Ragnar Jónasson, dessen Krimis und Thriller in mehr als 30 Ländern veröffentlicht worden sind, organisiert nicht nur das erste isländische Krimi-Festival und schreibt Bücher, er arbeitet auch nach wie vor als Investmentbänker und Unidozent für Rechtswissenschaften. „Weil es so wenige von uns Isländern gibt, müssen wir mehrere Jobs haben“, erklärt er der Moderatorin und dem aufmerksamen Publikum in der gefüllten Stadthalle.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über den gewaltigen Sprung in die Moderne, den die isländische Hauptstadt Reykjavik Mitte der 1980er Jahre gemacht hat. Sie sind beide Jahrgang 1976 und waren damals 10 Jahre alt. Wie schauen Sie auf diese Entwicklung?
Jakobsdóttir: Reykjavik ist heute eine viel interessantere Stadt als früher. In meiner Erinnerung habe ich damals nie Ausländer gesehen. Es gab nur eine Handvoll Restaurants, es war eine kleine Stadt, jeder kannte jeden.
Jónasson: Ich würde nicht in diese Zeit zurückwollen. Es gab nur einen Fernsehkanal und zwei Zeitungen. Alle haben das Gleiche erlebt. Die Möglichkeiten waren limitiert, es gab deutlich weniger Geld. Und es war unglaublich teuer zu reisen. Ich bin erst mit 13 zum ersten Mal ins Ausland gereist.
Jakobsdóttir: Ich erst mit 18. Wir hatten ja noch nicht einmal unseren eigenen internationalen Flughafen. Island in den 80er Jahren war aber auch eine Gemeinschaft, in der Leute sich vertraut haben. Deshalb war es für uns interessant zu schreiben, was unter der Oberfläche passiert. Denn den Old-Boys-Klub gab es damals natürlich auch schon.
Männer-Netzwerke und Korruption spielen eine große Rolle in Ihrem Buch. Jetzt mal außerhalb der Fiktion: Lässt sich dieses Problem überhaupt in den Griff bekommen in einer Gesellschaft, die so klein ist wie die isländische?
Jakobsdóttir: Wir haben das Problem noch nicht gelöst und werden es in einer Gesellschaft mit weniger als 400.000 Menschen wohl auch niemals ganz lösen. Aber nicht zuletzt seit der schweren Finanzkrise unseres Landes 2009 hat sich doch eine ganze Menge getan.
Hat man früher kaum Fremde in Reykjavik gesehen, strömen heute die Touristen. Segen und Fluch zugleich?
Jónasson: Touristen bringen nicht nur Geld und Arbeit, sie machen Reykjavik auch interessanter. Wir sind so klein, dass wir ohne sie viele Dinge nicht vorhalten könnten. Ohne Touristen hätten wir die vielen Restaurants nicht. An einem Samstagabend im Oktober ist die Innenstadt von Reykjavik voller Menschen aus dem Ausland. Ohne Touristen wäre es eine Geisterstadt.
Jakobsdóttir: Wir Isländer sind auch sehr gastfreundlich. Aber es gibt natürlich auch negative Seiten. Durch die vielen Airbnb-Vermietungen steht der Wohnungsmarkt enorm unter Druck. Viele haben auch Sorge, was die Belastung für unsere Infrastruktur und vor allem unsere Natur angeht.
Sie müssen als Premierministerin nicht nur knapp 400.000 Menschen regieren, sondern auch etliche Vulkane. Wie gehorsam sind letztere gerade?
Jakobsdóttir: Vulkane sind sehr unterschiedlich, so wie Menschen auch. Manche Vulkane brechen sehr eruptiv aus, wie der Eyjafjallajökull im Jahr 2010, andere haben ein völlig anderes Temperament. Wir erwarten in diesen Tagen einen neuen Ausbruch auf der Reykjanes-Halbinsel unweit vom Flughafen und der Hauptstadt. Wir haben Evakuierungspläne, und mögliche Auswirkungen auf die Infrastruktur im Blick. Aber es bleibt stressig, vor allem für die kleineren Ortschaften in unmittelbarer Nähe. Es gibt viele Erdbeben und wir müssen sehr schnell handeln, wenn der Vulkan ausbricht. In den letzten drei Jahren hatten wir drei Ausbrüche an Orten, die gut zu kontrollieren waren. Was jetzt passieren wird, wissen wir nicht genau.
Katrín Jakobsdóttir, 1976 geboren, ist seit 2017 Premierministerin Islands und war zuvor mehrere Jahre Bildungsministerin. Sie hat Isländische Literatur studiert und ihre Masterarbeit über den berühmtesten isländischen Krimiautor Arnaldur Indriðason geschrieben. Die Links-Grünen-Politikerin ist dreifache Mutter.
Ragnar Jónasson, Jahrgang 1976, ist Mitbegründer des isländischen Krimi-Festivals „Iceland Noir“. Seine Bücher, darunter auch die besonders erfolgreiche „Hulda-Trilogie“, werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht. Der erste Band dieser Reihe, 2020 unter dem deutschen Titel Dunkel erschienen, wurde von der britischen Zeitung „Times“ als einer der besten 100 Krimis und Thriller seit 1945 ausgezeichnet. Er hat zwei Töchter.
Der Krimi „Reykjavik“ ist am 1. November in Deutschland beim Verlag btb erschienen und kostet 23 Euro.