Köln – „Fin de siécle“ hieß das Motto des jüngsten WDR-Sinfoniekonzerts, pandemiehalber erneut aus einer publikumsfreien Kölner Philharmonie im Livestream in die interessierten Wohnzimmer gespült. Ein irgendwie passendes Motiv, denn unbestimmte Endzeitgefühle mögen ob der fortdauernden Corona-Krise etliche Zeitgenossen befallen.
Die Sache hatte freilich auch einen pragmatischen Hintergrund: Weil eine der richtig dicken Mahler-Sinfonien wegen des Abstandsgebots auf dem philharmonischen Podium derzeit nicht zu realisieren ist, war Chefdirigent Cristian Macelaru auf die Idee gekommen, in einer Folge kleinbesetzter Kompositionen nicht nur Mahler, sondern auch sein ihm engstens verbundenes Wiener Umfeld zu beleuchten – mit seiner Ehefrau Alma, deren Lehrer Alexander von Zemlinsky und dem großen Erben und Nachfolger Arnold Schönberg. Eine dichte, quasi-familiäre Konstellation mithin, die im Zusammenhang darzustellen reizvoll ist, auch wenn der Abend des Charakters einer Häppchen-Soiree (so war etwa statt Mahlers fünfter Sinfonie daraus lediglich das mit Streichern und Harfe bestückte Adagietto zu hören) nicht ganz entraten konnte.
Mehr als berauschende Schwüle
Fin de siécle? Nun ja, wer mit dem Epochennamen ausschließlich narkotisierende Schwüle und abnehmende Vitalität verbindet, wurde bei diesem Auftritt des WDR Sinfonieorchesters eines Besseren belehrt – vonseiten der Agenda her genauso wie von der Interpretation. Besser als „Fin de siécle“ klingt da wohl auch „Wiener Moderne“ – denn genau um diese und dabei zumal um den energiegeladenen Aufbruch der Musik im Spannungsfeld zwischen spätester Tonalität und frisch auftrumpfender Atonalität ging es.
Schönbergs erste Kammersinfonie, die (nach seinen eröffnenden vier frühen Walzern) zum Abschluss erklang, trägt zwar noch die Tonartbezeichnung E-Dur, aber die hat hier nicht mehr viel zu sagen. Wie auch immer: Zwischen hochgespannter Expression und dichtestem Kontrapunkt gelang den Musikern eine ausgezeichnete, die Gegensätze überlegen austarierende Aufführung.
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Das Nebeneinander von sehr Bekanntem und nahezu Unbekanntem machte nicht den geringsten Reiz des Konzerts aus. Dank Viscontis „Tod in Venedig“-Verfilmung über die Maßen bekannt ist besagtes Adagietto, das sich in dichter „Tristan“-Stimmung großräumig entfaltete, freilich immer noch zu diesseitig, zu wenig entrückt klang. Das mochte auch an der teils (und gleich zu Beginn) zu starken Präsenz der Harfe liegen, wie überhaupt einige dynamische Relationen nicht vollends funktionierten. Rundum gewinnend hingegen von Zemlinskys „Waldgespräch“ nach Eichendorffs Lorelei-Ballade, deren Schumann-Vertonung ungleich geläufiger ist. Die Sopranistin Christina Landshamer gestaltete sie dank der guten Konturierung des internen Sprecherwechsels als fesselnde dramatische Szene.
Ihre Alt-Kollegin Wiebke Lehmkuhl hatte sich zuvor mit ebenso großem Einsatz und vorbildlicher lyrischer Gestaltungsintensität fünf von Jorma Panula für Orchester bearbeiteten Liedern Alma Mahlers gewidmet – die zeigten, dass die Ehefrau durchaus mehr als nur ein Groupie der männlichen Genies in ihrem Umfeld war. Im Wechsel sangen Landshamer und Lehmkuhl schließlich einige von Mahlers „Wunderhorn“-Liedern. Beide verfügen über dezidiert schöne, in der Linienführung kontrollierte, in allen Lagen mühelos durchkommende Stimmen, und doch gebührte Lehmkuhl in Sachen Spezifik, Präsenz und Eindringlichkeit an diesem Abend wohl die Palme. Anders herum: Der Lustigkeit mit doppeltem Boden in der „Ablösung im Sommer“ – de facto einer Tragödie, die vom Publikum grauenhaft unbekümmert hingenommen wird – wurde Landhamers leicht neutraler Wohlklang nicht ganz gerecht.