Herr Professor Gabriel, beim CDU-Parteitag im Januar hat Armin Laschet die Bergmannsmarke seines Vaters als Symbol für Verlässlichkeit und Vertrauen hochgehalten. Ist Vertrauen in Krisenzeiten die Grundwährung der Demokratie?
Markus Gabriel: Im Moment brauchen wir nicht nur Vertrauen, sondern noch mehr Bürgersinn. Ein Bewusstsein dafür, dass wir alle in einer Demokratie leben. Die funktioniert auch, das möchte ich betonen. Aber sie braucht jetzt mehr Bewegung von unten nach oben als von oben nach unten. Wir sehen doch, dass sich die Krise nicht „top down“ lösen lässt. Es wäre falsch, blind auf die Allmacht der Politik zu vertrauen, die sie in einer Demokratie zum Glück nicht hat.
Sehen Sie ein Versagen aufseiten der Politik?
ZUR PERSON
Markus Gabriel, geboren 1980, ist seit 2008 Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Er hat dort den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie sowie Philosophie der Neuzeit und Gegenwart inne. Gabriel wurde durch populärwissenschaftliche Bücher bekannt, über die in Fachkreisen heftig gestritten wurde.
2020 erschien von ihm „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert“ (Ullstein Verlag). (jf)
Für Versagen halte ich die hilflose Verlängerung des „Lockdown light“, das wäre eindeutig besser gegangen. Als „Wellenbrecher“ angekündigt, hätte man sich nach spätestens drei Wochen etwas anderes überlegen müssen, sobald nämlich klar war, dass die Welle ungebrochen weiterrollt. Bis dahin war es „nur“ das Scheitern eines vertretbaren Versuchs, der Krise vorsichtig Herr zu werden. Vier Monate Lockdown dagegen halte ich in keiner Weise für berechtigt.
Der richtige Weg…
… hätte so ausgesehen: Mit dem Scheitern des Wellenbrecher-Lockdowns hätte man das Ziel umdefinieren müssen. Offenhalten, was sich überhaupt nur offenhalten lässt – und das mit lokal differenzierten Maßnahmen, bei denen man die Bürgerinnen und Bürger mitnimmt, die höchst kreativ sind und sein wollen. Ich nenne ein Beispiel: Wir hätten schon den ganzen Winter über mit Schnelltests arbeiten können, um Kultur und Gastronomie möglichst sicher offenzuhalten, die Schließung der Friseure, die fast überall außer in Deutschland den ganzen Winter über auf waren, war immer Unsinn. Differenzierte Maßnahmen kann kein Spitzenpolitiker verfügen, weil er nicht weiß, was vor Ort gerade los ist. Wir brauchen mehr proaktiver bürgerliches Engagement, Kooperation zwischen allen Ebenen der Gesellschaft, die betroffen sind.
Woran würden Sie dann den Erfolg messen wollen? Auch an den Inzidenzzahlen?
Das Starren auf die Infektionszahlen ist ein Fehler, ein Inzidenzwahn. Kriterium muss die Belastbarkeit des Gesundheitssystems sein sowie die Frage, wer wie krank ist. Natürlich korreliert das mit den Infektionszahlen, und natürlich sterben viel zu viele Menschen. Aber die Rettung von Leben ist nicht im Allgemeinen die Aufgabe des Staats. Sonst müssten wir Autos und Alkohol verbieten. Der Staat schützt und stärkt das Gesundheitssystem, er stellt die Infrastruktur zur Verfügung, um auf diese Weise möglichst große Spielräume der Freiheit zu ermöglichen.
Meinen Sie mit „Inzidenzwahn“ die „No Covid“-Initiative? Die will ja mit den Inzidenzen gegen Null kommen, um das Risiko eines erneuten exponentiellen Anstiegs zu vermeiden und die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.
„No Covid“ ist leider unrealistisch. Wir waren schon einmal im Keller mit den Inzidenzen, das hat die zweite Welle nicht verhindert. Und wenn wir rote und grüne Zonen einführen, zwischen denen die Bewegungsfreiheit unterbunden werden soll, wie etwa in Italien, möchte ich mal ganz konkret wissen, wie das bei uns gehen soll. Wenn Köln mit hohen Inzidenzen aufwartet, die Nachbarschaft aber nicht – kommt dann die Bundeswehr und sperrt die Rheinbrücken? Ich möchte betonen, dass jede Langzeitstrategie, die erheblich mehr Freiheit ermöglicht, besser ist als das, was wir den Winter über gesehen haben. „No Covid“ ist zwar eine Langzeitstrategie, nur keine, die den Fakten entspricht, weil wir zu lange nicht auf die niedrigen Zahlen kommen, warum auch immer. In Wahrheit weiß das keiner, es ist aber so.
Als wir zuletzt miteinander sprachen, monierten Sie, dass den Virologen Fragen gestellt würden, die sie nicht beantworten könnten – insbesondere, wie wir als Gesellschaft aus der Krise kommen. Hat sich das geändert?
Im Grunde nicht. Ich glaube, man muss den Medizinern die Modellhoheit entziehen. Sie können aus ihrer Expertise nichts zu den demokratischen und sozialen Kosten etwa eines Konzepts sagen, das die Inzidenzen unter zehn bringen will. Echte interdisziplinäre Arbeit bestünde darin, dass wir bessere, realitätshaltige Modelle entwickeln, die nicht nur nach abstrakten Kriterien der Mobilität arbeiten. Es fehlen weiterhin empirische Studien, die uns zeigen, wie man sich wo infiziert. Wir müssen den Faktor Mensch und Lebenswelt endlich berücksichtigen, alles andere ist ein offensichtlicher Irrweg.
Also was tun?
Indem wir uns auf die dritte Welle vorbereiten mit noch besseren Hygienekonzepten und diese dann auch in der Wirklichkeit testen, also nicht noch ein Lockdown als Präventivmaßnahme, die das Problem der Kollateralschäden nicht löst. Wollen wir der nächsten Welle ernsthaft mit einem weiteren viermonatigen Lockdown begegnen? Das wäre dann schon Staatsversagen, denn der Ausnahmezustand darf kein Dauerzustand werden. Das hat ja jetzt schon irrwitzige Auswüchse.
Woran denken Sie?
Ich war dieser Tage für einen Außentermin in meiner Heimatstadt Sinzig und musste zur Toilette. Es gab in ganz Sinzig keine Möglichkeit, nicht mal an der Tankstelle. Ich finde, das kratzt mindestens so sehr an die Würde wie aus der Form geratene Frisuren. Nach einem Jahr einseitigen Sicherheitsdenkens ist es dringend an der Zeit, Freiheitsdenken zu fordern, das heißt mit Bürgersinn und Eigenverantwortung die kreativen Hygienekonzepte, die entwickelt wurden, endlich umzusetzen, also: modern vorzugehen und nicht vormodern, was übrigens viele andere Staaten auch machen. Deutschland ist global gesehen unteres Mittelfeld, Kreisliga der Pandemiebekämpfung. Kurzum: Gesundheitssystem stärken durch Investitionen, einfache Schnelltests für alle, Hygienekonzepte, moderne digitale Lösungen.
Wie gehen Sie als Philosoph eigentlich damit um, dass dieses Virus dem Menschen immer einen Schritt voraus zu sein scheint? Seine neueste Kriegslist: die Mutanten.
Das ist eine echte Herausforderung. Die Mutationen waren zwar erwartbar, aber nicht berechenbar. Wir müssen davon ausgehen, dass Viren hochintelligent sind, überaus anpassungsfähig, uns Menschen durch die schnellen Veränderungen im Erbgut evolutionsbiologisch haushoch überlegen.
Wie kann der Mensch seine Nachteile gegenüber dem Virus ausgleichen?
Indem das intelligente Lebewesen Mensch seinen intelligenten Gegner auf eine Weise in die Enge treibt und dort trifft, wo er angreifbar ist. Ich mache das Bild mal ein wenig konkreter: Wir müssen das Virus aus den Alten- und Pflegeheimen heraustreiben und für jeden Menschen Alltagstests anbieten (und zwar kostenlos). Damit würden wir der viralen Intelligenz unsere menschliche Intelligenz entgegensetzen. Ein undifferenzierter Lockdown dagegen ist keine intelligente Methode – und dementsprechend auch erfolgsarm, wie wir seit Monaten sehen.
Sie haben die Empfehlung des Deutschen Ethikrats kritisiert, Geimpften keine Privilegien einzuräumen, zumindest solange nicht geklärt ist, ob sie weiter infektiös sind. Warum?
Es geht nicht um Privilegien, das ist falsch! Es geht um die Aufhebung einer Deprivilegierung. Die Einschränkung darf nicht gelten, wo Geimpfte nur Geimpfte treffen. In einer Gruppe von Geimpften ist „das Biest unter Kontrolle“ oder die Wahrscheinlichkeit einer Neuinfektion zumindest so gering, dass sie keine weitere massive Einschränkung von Grundrechten, wie etwa Berufsverbote, rechtfertigt. Andernfalls könnten wir die Grundrechte vergessen und die Demokratie dicht machen. Das heißt also: 20, 50 oder 15.000 Geimpfte können alles miteinander tun, wonach ihnen der Sinn steht. Sich umarmen, küssen, tanzen, feiern – ganz egal, und das geschieht übrigens längst in vielen Länder, Spanien etwa oder Israel. Fragen wir doch einmal die, die bisher dem größten Risiko ausgesetzt waren und am meisten zu leiden hatten, was sie sich wünschen: die älteren Menschen, die jetzt bald durchgängig geimpft sind. Ihnen Gastronomie, Konzerte, Theater für Geimpfte möglichst bald wieder zu öffnen, ist ein Stück Ausgleich für die vorangegangenen Einschränkungen und Belastungen. Das ist Solidarität und nicht die undifferenzierte Freiheitsbeschränkung aller.
Dann hätten wir eine Zweiklassengesellschaft von Geimpften und Ungeimpften. Sehen Sie da nicht die Gefahr einer weiteren Entsolidarisierung?
Solidarität bedeutet, sich von Herzen mit denen zu freuen, die ihre Grundrechte schon wieder voll genießen dürfen. Zumal das – wie gesagt – zunächst die Gruppe derer betrifft, die in der Pandemie bisher die größten Opfer gebracht haben. Solidarität besteht darin, den Gesundheitsminister zu bestürmen, noch schneller noch mehr Impfstoff bereitzustellen. Die Warnung vor einer Zweiklassengesellschaft, die dadurch entstünde, dass ein Teil der Bevölkerung die Grundrechte schon wieder vollumfänglich genießen kann, ist eine Neid-Diskussion. Neid aber ist das Gegenteil von Solidarität. Neid gehört auch nicht zu den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats. Sonst müsste man mit einem Schlag den guten alten Kommunismus einführen und gleiche Gehälter für den Ministerpräsidenten von Bayern und die Münchner Pfleger fordern, denen wir auf jeden Fall statt Applaus bessere Arbeitsbedingungen schulden.
Ist da das Plädoyer für eine Impfpflicht herauszuhören?
Sobald genügend Impfstoff vorhanden und auch für die unter 16-Jährigen in hinreichender Qualität vorhanden ist, sehe ich nichts, was gegen eine gut durchdachte Impfpflicht spricht mit dem Ziel, eine Durchimpfung von etwa 80 Prozent der Bevölkerung zu erreichen und diese Pandemie damit wirklich im Griff zu haben.