Kontrastprogramm bei „Musik der Zeit“ mit dem WDR Sinfonieorchester.
„Musik der Zeit“ in der Kölner PhilharmonieIn der Küche des Menschenfressers
Die ersten Klänge stammen nicht vom Orchester, sondern von einem Blutdruckmessgerät. Das Rattern der Pumpen für Arme und Beine wird mit zunehmendem Druck immer angestrengter und höher. Die Adern sollen maximal gestaut werden. Dann platzt das Orchester mit harten Schlägen heraus und die geballte Energie erfährt ihre erleichternde Entladung durch lange im Saal verströmende Ausklänge.
Irritierend wie der Anfang sind auch Verlauf und Schluss von Nicolaus A. Hubers „…der arabischen 4“. Mal haucht die Flöte eine tonlose Kantilene, mal lassen die Celli einen sanften Liegeton durch den Raum schweben. Dann gibt es knackige Akzente, sirrende Zymbeln, und am Ende über Lautsprecher sieben Lacher der pakistanisch-österreichischen Menschenrechtsaktivistin Sabatina James, auf die sieben metallische Glissandi auf den Saiten im Innenklavier reagieren.
Auch was man bei einmaligem Hören nicht versteht, hat sein Recht
Wie passt das alles zusammen? Huber huldigt den arabischen Zahlen 4 und auch 7 durch Tonhöhen, Intervalle, Dauern, Proportionen, Anzahlen „im Sinne von Kultur als Austausch, als Zeichen gegen dümmliche Grenzen“. Auch was man bei einmaligem Hören nicht versteht, hat sein Recht.
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Der 1939 in Passau geborene Komponist lehrte fast dreißig Jahre an der Folkwang-Hochschule Essen. Im Dezember feiert er seinen 85. Geburtstag. In seinem „laissez vibrer“ werden 18 Röhrenglocken wahlweise mit Fingern und Händen sanft touchiert, gestreichelt, getupft oder mit Hammer und verschiedenen Schlägeln gestisch zupackend und gleißend laut attackiert. Abgesehen von einem abrupt abgedämpften Schlag dürfen alle Aktionen gemäß den akustischen Eigenschaften des Metalls – so der Stücktitel – ausschwingen. Perkussionist Christoph Sietzen hatte seine Hauptrolle zuvor jedoch in Johannes Maria Stauds Schlagzeugkonzert „Whereas the reality trembles“.
Spiel auf Steinplatten, Tontöpfen, Holzbalken
Das Konzert der Reihe „Musik der Zeit“ mit dem von Brad Lubman bestens einstudierten und geleiteten WDR Sinfonieorchester stellte Hubers Musik zwei agile Werke gegenüber. Das effektvolle Virtuosenkonzert des österreichischen Komponisten ist wie geschaffen für die Hollywood-Bowl. Zu schellen Pulsationen klöppelt der formidable Perkussionist unablässig Akzente, Wirbel, Akkorde und Läufe auf Marimbaphon und Kuhglocken-Batterie. Nahezu vollständig von Schlagwerk umgeben, wandert Sietzen weiter zu Steinplatten, Tontöpfen, Holzbalken, Fellinstrumenten und mit Fußmaschine traktiertem Ölfass. Einem ruhigen Mittelteil mit silberhellen Zimbeln folgt erwartungsgemäß erneut wildes Stampfen und Schlagen – sowie großer Applaus.
Wie der Splatter-Horror von Quentin Tarantino
Gordon Kampes „mein Fleisch“ führt mit Senthuran Varatharajas Roman „ROT (HUNGER)“ zum Tatort dessen, der 2001 als „Der Kannibale von Rotenburg“ bekannt und schon öfter in Comics, Songs, Theaterstücken und Film verarbeitet wurde. Die Musik des einstigen Huber-Schülers wirkt wie der Splatter-Horror von Quentin Tarantino, erschütternd und ironisch übersteigert zugleich. Die Streicher schwingen ihre Bögen als wollten sie Schneiden und Hexeln. Schläge von Tutti und Perkussion wirken wie Hiebe vom Metzgerbeil. Überall wird emsig tranchiert, filetiert, ausgebeint.
Sopranistin Anna-Lena Elbert schildert in ekstatisch strahlenden Höchstlagen, wie eine Gottesanbeterin das sie begattende Männchen mit Stumpf und Stiel vertilgt. Tenor Holger Falk besingt die fachgerechte Schlachtung eines Huhns und verfällt beim Wort „Blutwurst“ in verzücktes Falsett. Das hervorragende Vokalduo verkörpert das innige Verhältnis von Täter und Opfer. Und das geschäftige Orchester schildert die Küche des Menschenfressers mit sezierenden Kreisfiguren, siedenden Violinen, wimmerndem Flexaton. Mahlzeit!