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N wie NordpolWarum wir noch immer wie die Nazis buchstabieren

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Alte Buchstabiertafel

  1. Um am Telefon richtig verstanden zu werden, nutzen wir eine genormte Buchstabiertafel. N wie Nordpol, heißt es dann zum Beispiel.
  2. Doch erst seit 1934. Davor sagte man N wie Nathan. Die Nazis haben jüdische Namen aus der Tafel entfernt.
  3. Was jetzt, nach 86 Jahren, an der immer noch gültigen Nazi-Tabelle geändert werden soll.

Köln – Das Pferd frisst keinen Gurkensalat. Mit dieser Durchsage an die Mitglieder des Physikalischen Vereins in Frankfurt stellt Johann Philipp Reis am 26. Oktober 1861 das von ihm erfundene Fernsprechgerät der Öffentlichkeit vor. Er gibt ihm den Namen „Telephon“.

Dass Reis den Nutzen seines Apparats mit einem Satz solch absurden Inhaltes demonstriert, erscheint nur im ersten Moment widersinnig: Wer „Pferd“ und „Gurkensalat“ versteht, hat verstanden, ohne dass die Intuition nachhelfen muss.

Mit der Geschichte des Telefons beginnt die bis heute fortlaufende Geschichte fernmündlichen Verhörens. Wo immer Telefone klingeln, so hat es der Medientheoretiker Friedrich Kittler formuliert, haust ein Gespenst in der Muschel.

Missverständnisse, die im Alltag nur ärgerlich sind, können im Fall von Finanzgeschäften, kriegswichtiger Kommunikation oder im Flugverkehr weitreichende Konsequenzen haben. Um Hörfehler zu vermeiden, greift man auf standardisierte Buchstabiertafeln zurück: A wie Anton, B wie Berta.

Die Ursprünge der deutschen Buchstabiertafel gehen bis ins Kaiserreich zurück, in der Weimarer Republik gibt es nur einige geringfügige Änderungen. Bis ein Rostocker Bürger namens Joh. Schliemann am 22. März 1933 eine Karte an das Postamt seiner Stadt schickt: „In Anbetracht des nationalen Umschwungs in Deutschland halte ich es für nicht mehr angebracht, die in der Buchstabiertabelle des Telefonbuchs aufgeführten jüdischen Namen wie David, Nathan, Samuel, etc. noch länger beizubehalten.“

Die Angelegenheit landet schließlich bei der Oberpostdirektion Berlin und trifft dort auf einen so übereifrigen wie umschwungwilligen Beamten, der sich sogleich an die „Arisierung“ der Tafel setzt: So wird aus „David“ im Telefonbuch des Jahres 1934 „Dora“, aus „Isidor“ „Ida“ und aus dem weisen „Nathan“ der „Nordpol“, als sagenhafter Ursprungsort der „weißen Rasse“ in der Gaga-Ideologie der Nationalsozialisten. Statt „S wie Samuel“ buchstabieren die Deutschen fortan nibelungentreu „S wie Siegfried“ und das Z war kein alttestamentarischer „Zacharias“ mehr, sondern ein „Zeppelin“, das Hakenkreuz an der Heckflosse des Luftschiffs gleich mitgedacht.

Merken Sie etwas? Genau, wir buchstabieren noch immer wie die Nazis, ganz offiziell. Zwar wird die antisemitische Tafel mit der Gründung der BRD überarbeitet und in den 1980er Jahren mit einer DIN-Norm versehen (DIN 5009 für Phonodiktate), doch setzt man nicht alle von den Nationalsozialisten gestrichene Namen wieder ein. Aus der „Dora“ wird kein „David“ mehr, aus dem „Nordpol“ kein „Nathan“ (indes ist der „Siegfried“ seit 1950 wieder ein „Samuel“).

Die Macht der Gewohnheit kann erklärtermaßen kein Skandal sein. Aber den Nationalsozialisten 86 Jahre lang unhinterfragt nach dem Mund zu reden, das ist beschämend. Da frisst das Pferd keinen Gurkensalat.

Brief an DIN-Institut

Erst vergangenes Jahr stößt der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume, bei Recherchen zu einem Buch über wiedererstarkte antisemitische Verschwörungsmythen auf das lange liegengebliebene Thema. Prompt schickt Blume einen Brief an das Deutsche Institut für Normung (DIN), mit der dringenden Bitte um Überarbeitung der DIN-Norm 5009.

Nun soll die alte Buchstabiertafel aus der Weimarer Republik wieder eingeführt werden. Allerdings nur für eine kurze Übergangszeit. Es gehe ihm, sagt Blume, vor allem um die symbolische Wirkung, es sei ein „schönes Signal für das Jahr, in dem wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern.

Elif statt Emil

Selbstredend stellt sich damit die Frage, wie eine deutsche Tafel aussehen müsste, die die heutigen Gesellschaftsverhältnisse halbwegs realistisch abbildet? Rund 21 Millionen Deutsche haben 2020 einen Migrationshintergrund. Sollte da nicht künftig eine „Elif“ den „Emil“ ersetzen, oder ein „Michail“ die „Martha“? Und überhaupt: Wer heißt denn noch Martha oder Emil?

Man könnte das Telefonalphabet auch – Achtung, kein ernst gemeinter Vorschlag! – bequem von Google autovervollständigen lassen: A wie „Amazon“, F wie „Facebook“, Z wie „Zalando“. Das will niemand. Zumal sich die Autovervollständigung nach Zeit, Standort und Browserverlauf und Nachrichtenlage richtet. Und wer will schon in einem Jahr noch R wie „Robert Koch-Institut“ buchstabieren?

Städte statt Vornamen

Das Deutsche Institut für Normung hat bereits einen Arbeitsausschuss gebildet, der bis zum kommenden Herbst einen Reformvorschlag für eine neue Tabelle nach DIN 5009 vorlegen soll, der dann im dritten Quartal 2022 in Kraft tritt. Bis dahin gilt die Weimarer Tafel.

Zum Einsatz sollen in der neuen Norm vor allem Städtenamen kommen. Bei einer Buchstabiertafel mit Vornamen, begründet der DIN-Pressesprecher, sei es sehr schwierig, „die kulturelle Diversität der deutschen Bevölkerung genügend widerzuspiegeln“. Sprich: Die Diskussion mit ihren endlosen Rattenschwanz an Missverständnissen und unterstellten Absichten will man sich nicht antun.

Das ist verständlich. Und alles ist besser als der Ist-Zustand.