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Neues Album von The 1975Meister der uncoolen Referenz

Lesezeit 3 Minuten

Matthew Healy, Sänger von The 1975, mit Klimaaktivistin Greta Thunberg

Köln – Mehr als 80 Minuten Musik, die so klingt, als spielte ein sprunghafter Beifahrer ebenso lang am Autoradio herum – das ist doch Wahnsinn. Jedenfalls zu normalen Zeiten. Im Moment aber könnte „Notes on a Conditional Form“, das vierte Studioalbum von The 1975, genau das sein, was wir brauchen, um unsere hoffnungslos zerfahrenen Tage mit Klang und Sinn anzufüllen. Die Zeit dafür haben wir ja.

Die Band aus Manchester und insbesondere ihr Sänger Matthew Healy haben von ihren ersten EPs an polarisiert: Sie schienen dem Emo-/Indie-Rock-Kosmos zu entstammen, operierten aber gleichzeitig mit Oberflächenreizen, die einer koreanischen Boyband würdig gewesen wären. Weil sie noch dazu die hohe Kunst der radiotauglichen Single beherrschten, spielten The 1975 schon bald in Arenen und verkauften Tonträger in Millionen-Einheiten.

Verachtung und Verehrung

Längst hat sich die Band von ihren struwwelig-schnuckeligen Anfängen emanzipiert. Aber als Meister der uncoolen Referenz, des ungefilterten Bekenntnisses und des hemmungslosen Eklektizismus ruft sie Verachtung und Verehrung hervor wie eh und je.

„Notes on a Conditional Form“ sollte eigentlich nicht mehr werden als ein schneller Nachschlag zu ihrem 2018er Album „A Brief Inquiry into Online Relationships“, nur wenige Monate später serviert. Stattdessen begab sich die Band auf eine Odyssee durch 16 Studios, von der sie erst anderthalb Jahre später mit einem unbeschreiblichen Monster von Album zurückkam, einem Doppelalbum als Füllhorn disparater, auseinanderdriftender Ideen, wie das Weiße Album der Beatles oder „Tusk“ von Fleetwood Mac.

Nur, dass „Notes“ weniger Dokument einer Band im Zustand der Auflösung ist, als vielmehr Abbild des grenzenlosen – manche würden sagen: richtungslosen – musikalischen Appetits des kreativen Kerns von The 1975, Matthew Healy als Ideengeber und Drummer George Daniel als dessen kongenialer Möglichmacher.

Will der uns verscheißern?

Worum aber geht es in „Notes“? Es gehe um das Nachtleben im Vereinigten Königreich, um Kiffen im Auto, Clubben und den obligatorischen McDonald’s-Besuch am Morgen danach, erläuterte Healy einem Interviewer. Es gehe um geistige Gesundheit und Häuslichkeit, erzählte er einem anderen. Will der uns verscheißern?

Dabei beginnt das Album mit einer Botschaft, die deutlicher nicht sein könnte: Zu Ambient-artig verhallten Klavierklängen redet uns Greta Thunberg ins Gewissen: Wir müssten einräumen, dass wir die Situation nicht unter Kontrolle haben. „Wacht auf, wacht auf“, pflichtet ihr Healy im nächsten Track bei, seine Stimme überschlägt sich zum drängenden Punk-Geknüppel. Ein Stilbruch, aber immerhin ein klares Narrativ.

Es wird noch rätselhafter

Nur: Warum folgt darauf ein symphonisches Stück von gletscherhafter Schwere und Trägheit? Und anschließend ein nervös zuckender Popsong mit den ominösen Zeilen „Rausgehen? Scheint unwahrscheinlich“. Wollten The 1975 illustrieren, wie uns die Angst vor der Klimakatastrophe nur zwei Minuten hochschrecken lässt, bevor wir uns von anderen Dingen ablenken lassen?

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Doch es wird noch rätselhafter. Healy singt mit Phoebe Bridgers, der zurzeit interessantesten US-Singer-Songwriterin, eine sanfte Folkballade über gleichgeschlechtlich liebende Teenager im amerikanischen Bibelgürtel. Prompt hebt die Band zu gemächlich schaukelnden Country-Rock an, nur um sich kurze Zeit später vom jamaikanischen Reggae-Altstar Cutty Ranks in die Dancehall entführen zu lassen. Ach ja, und zwischendurch klingen The 1975 mal wie die alte Liverpooler Jingle-Jangle-Band The La’s, dann wieder wie ein balearischer House-Track. Dabei sind wir kaum bei der Hälfte des Albums angelangt. „Ich würde mich gerne selbst treffen und dann die Kleider tauschen“, singt Healy. Mission erfüllt.

Allein: Ist das nun irritierend oder faszinierend? Entscheiden Sie selbst. Mein Votum fällt positiv aus. Ich habe Zeit, ich brauche Ablenkung. Zumal die besten Stücke hier wirklich hochkonzentrierter, superkonziser Radiopop sind. Und für alle anderen nach mehrmaligem Hören der „Ob-La-Di, Ob-La-Da“-Effekt eintritt: Man weiß nicht wirklich, was das jetzt soll, aber man möchte es nicht missen.