Köln – Am Mittwochabend war bei Pro Sieben Erstaunliches zu beobachten. Dort, wo sonst das Motto „We love to entertain you“ mit Shows, Serien oder Filmen zelebriert wird, interviewten zur Primetime Linda Zervakis und Louis Klamroth den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Am Montag bittet der Münchner Privatsender dann Armin Laschet zum Gespräch. Das erste Interview mit Annalena Baerbock nach Verkündung ihrer Kandidatur gab es auch bei Pro Sieben. So etwas wäre früher undenkbar gewesen.
Da waren die Grenzverläufe eindeutig: Die öffentlich-rechtlichen Sender machen den seriösen Nachrichtenjournalismus, die Privaten sind für die Unterhaltung zuständig. Dass jemand, wie jüngst Zervakis, seinen Job bei der renommierten „Tagesschau“ aufgibt, um zu Pro Sieben zu gehen, wäre undenkbar gewesen.
Auch Jan Hofer wechselt die Seiten
Diese Personalie ist nur eine von mehreren, die zeigen, dass sich im deutschen Fernsehen etwas verschiebt. Der 69 Jahre alte Jan Hofer war 35 Jahre lang das Gesicht der „Tagesschau“. Doch statt sich in den wohlverdienten Ruhestand zu verabschieden, tauchte er erst in der RTL-Tanzshow „Let’s dance“ auf und dann verkündete der Kölner Privatsender Ende März, Hofer werde Anchorman einer neuen wochentäglichen Nachrichtensendung im Hauptabendprogramm.
Matthias Opdenhövel wiederum gibt seinen Job bei der „Sportschau“ im Ersten auf, um bei Pro Sieben mit Zervakis eine zweistündige Primetime-Sendung zu moderieren, die Informationen, Interviews und Hintergrundinformationen bieten soll.
Immer häufiger rückten RTL und Pro Sieben in diesem Jahr politische und gesellschaftlich relevante Themen in den Fokus. Waren Sondersendungen bei RTL früher die Ausnahme, dürfte sich der ein oder andere „Bachelor“-Fan verdutzt die Augen gerieben haben, wenn um 20.15 Uhr nicht die Kuppelshow startete, sondern über die aktuellen Corona-Maßnahmen berichtet wurde.
Da flog sogar die Werbung aus dem Programm
Gleich einen ganzen Abend räumte RTL zudem frei, um unter der Überschrift „Angriff auf unsere Kinder“ über Cybergrooming aufzuklären. Da flog sogar die Werbung kurzfristig aus dem Programm. Diese Entscheidung traf auch Pro Sieben, als man im Nachgang zu „Joko und Klaas gegen Pro Sieben“ zur besten Sendezeit und bis weit in die Nacht hinein den Alltag von Pflegepersonal in Deutschland dokumentierte.
Das Pro-Sieben-Special „Männerwelten“, in dem Sexismus gegen Frauen als Kunstausstellung inszeniert wurde, erhält sogar einen Grimme-Preis. Und kürzlich zeigte RTL einen Themenabend zum Wirecard-Skandal. Was Relevanz und Reichweite anging, ließen die Privaten die öffentlich-rechtliche Konkurrenz regelmäßig hinter sich.
Der Frontalangriff ist kein Zufall
Was ist da los? Früher hatte man oft den Eindruck, Privatsender machen Nachrichtensendungen, weil sie müssen, nicht weil sie es wollen. Dass sie gerade jetzt die Öffentlich-Rechtlichen frontal bei deren Kernkompetenz angreifen, ist kein Zufall, sondern Kalkül.
Zum einen war das Informationsbedürfnis beim Publikum selten so hoch wie in Corona-Zeiten. Zudem zwingt die Pandemie die Menschen dazu, zuhause zu bleiben. Wenn man etwas verändern und damit viele Menschen erreichen will, ist also genau jetzt der richtige Zeitpunkt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Abwandern der jungen Zielgruppe ins nichtlineare Fernsehen. Nicht nur ARD und ZDF haben damit zu kämpfen, dass die Jugend sich nicht mehr zu festen Zeiten vor den Bildschirm zwingen lassen will. Auch die Privaten sind davon betroffen. Eine ältere Zielgruppe braucht aber eine andere Ansprache und interessiert sich für andere Themen. Und auch viele Werbekunden freuen sich sicherlich über ein Umfeld, das weniger von Krawall geprägt ist.
Bei RTL ist viel in Bewegung
Gerade bei RTL ist vor diesem Hintergrund viel in Bewegung. Die Mediengruppe gründete zum 1. Februar die RTL News GmbH mit rund 700 Journalisten an 24 Standorten und „damit die schlagkräftigste journalistische Unit für crossmediale Nachrichten, Infotainment, investigativen Journalismus sowie Dokutainment in Deutschland“, wie sie selbst sagt.
Hinzu kommt, dass der Mutterkonzern Bertelsmann zurzeit die Fusion mit dem Verlagshaus Gruner + Jahr prüft, auch das würde zu einem weiteren Wandel des Senders führen.
„Wir sind den ganzen Tag Aktivisten für relevante Nachrichten“, sagte Stephan Schmitter, Geschäftsführer von RTL News kürzlich in einem „FAZ“-Interview, dem deutlich anzumerken war, wie wichtig es RTL war, darin die Seriosität des Hauses zu betonen.
Es geht um einen grundlegenden Imagewandel
Es geht eben nicht nur um mehr Nachrichten und relevante Inhalten, sondern auch um einen grundlegenden Imagewandel. Handelte RTL früher stets fröhlich nach dem Motto „Hauptsache, es knallt, denn das ist gut für die Quote“, tut sich auch im Unterhaltungsbereich einiges. In einer Zeit, in der viele Menschen die Verrohung der gesellschaftlichen Debatten kritisieren, will auch RTL nicht mehr der Sender sein, der Quote damit macht, wie Menschen erniedrigt und vorgeführt werden.
Und so wundert es auch nicht, dass man nach vielen Jahren Dieter Bohlen als Juror in „DSDS“ und „Supertalent“ absetzte – und zwar endgültig und ohne den Versuch, es nach einer einvernehmlichen Trennung aussehen zu lassen.
Bohlen steht mit seinen häufig beleidigenden Kommentaren für das alte RTL, doch der Erfolg von freundlicheren Showformaten der Konkurrenz wie „The Voice of Germany“ und „The Masked Singer“ zeigt, dass er als Gesicht des Senders nicht mehr zum Zeitgeist passt. Oder wie Bohlen es selbst in einem Instagram-Video formulierte: „RTL will einfach einen neuen Weg gehen, familienfreundlicher – da hat so ein Revoluzzer, der immer ein bisschen auf die Kacke haut wie ich, eben nichts mehr zu suchen.“
Ob Bohlen ein Revoluzzer ist, sei mal dahingestellt, aber familienfreundlicher will man sicherlich werden in Deutz. Thomas Gottschalk, das Urgestein aus der Zeit, als lineares Fernsehen noch das vielzitierte mediale Lagerfeuer war, sieht man ja schon seit längerem immer wieder im Programm.
Nun gelang es RTL, Hape Kerkeling aus seiner selbstgewählten TV-Abstinenz zu locken. Mit ihm hat der Sender Großes vor. „Wir erneuern RTL und entwickeln uns als Programm und Marke immer weiter“, sagte Henning Tewes, Geschäftsführer RTL Television. Daher freue er sich besonders über die Verpflichtung Kerkelings. Jetzt müsste man sich eigentlich nur noch von Oliver Pocher und Mario Barth trennen, die doch eher für den alten Rüpel-Stil stehen – dann stünde RTL auf dem Weg zum seriösen Familiensender wenig im Weg.