Köln – Die sechste Ausgabe des Urbäng Festivals vom Ensemblenetzwerk der Freihandelszone ist eine ganz besondere. Das Festival für Darstellende Künste in Köln steht diesmal ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs. Als am 24. Februar der Angriffskrieg losbrach und russische Truppen sich anschickten, die ganze Ukraine zu besetzen, war der künstlerischen Leitung des Festivals, Jörg Fürst und André Erlen klar, dass sie die bisherige Planung des Festivals überdenken mussten.
So überließen sie die Programmgestaltung den ukrainischen Künstlern von „artists in war“. Die Ukrainerin Bozhena Pelenska, Kuratorin und Leiterin des Jam Factory Art Center in der Westukrainischen Stadt Lviv, zeichnet nun federführend für das Programm verantwortlich, das an den vier Tagen bis zum Samstag in dem Orangerie-Theater stattfindet. Gleich der Auftaktabend setzte die programmatischen Weichen für die kommenden Tage. Zum prominent besetzten Eröffnungstalk waren mit Serhij Zhadan und Navid Kermani zwei Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels geladen. Serhij Zhadan, Musiker und einer der wichtigsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur, wird den Preis Ende Oktober in Frankfurt entgegennehmen.
Kultur soll nicht vor dem Krieg kapitulieren
Im Gespräch führte Zhadan dem ausverkauften Saal noch einmal eindrucksvoll die Situation vor Augen, der sich die ukrainischen Künstler im Krieg gegenübersehen. Keinerlei Gedanken an Kunst habe er gehabt, so der Autor, als in seiner Heimatstadt, der Millionenmetropole Charkiw, die russischen Raketen einschlugen. Erst nach vielen Wochen der Schockstarre, in dem es ihm nur gelang die Schrecken des Krieges wie ein dokumentarischer Chronist schriftlich festzuhalten, sei ihm klar gewesen, dass die Kultur nicht vor dem Krieg kapitulieren dürfe. So habe man in der Frontstadt mit Festivals zur Literatur und zahlreichen Konzerten dem trüben Kriegsalltag etwas entgegenzusetzen versucht.
Jetzt gelte es, in der Literatur eine neue Sprache zu finden, für das, was sich in seinem Land durch den Krieg verändert habe. „Alles was ich vor 2022 geschrieben habe, erscheint mir hinfällig“, so Zhadan, hier entstehe gerade ein neues Land, eine neue Gesellschaft, für die sich die Literatur neuerfinden müsse. Navid Khermani stellt in seinem Beitrag in Abrede, dass sich auch schon im Westen etwas verändert habe. „Ich empfinde es nicht als Zeitenwende“, sagt Khermani. „Ich habe den Prolog schon viel früher gesehen, als Putin schon mit Waffengewalt die Landkarte im Osten verändert hatte, wie mit der Annexion der Krim im Jahre 2014.“
Kritik an den Westen und an Annalena Baerbock
Hätte der Westen, so Khermani, bereits auf den Krieg in Syrien, wo Putin das Assad-Regime unterstützt, entschlossen reagiert, wäre es nie zum Krieg in der Ukraine gekommen. Als Beleg für die mangelnde Haltung der deutschen Politik, führte Khermani auch die Reaktion auf die aktuellen Proteste im Iran an. Dass die deutsche Außenministerin, die sich eine feministische Politik auf die Fahnen geschrieben habe, nun mit Schweigen auf die von den Frauen angeführten Massenproteste im Iran reagiere, sei beschämend. Khermani, der auch als Kriegsreporter arbeitet, bereiste im Sommer die Ukraine und fand ein gänzlich verändertes Land vor. „Hatte ich früher den Eindruck, in ein gespaltenes Land zu reisen, so fand ich jetzt eine im Widerstand geeinte Gesellschaft vor. Putin hat mit seinem Angriffskrieg das Land geeint und die Menschen zusammengeschweißt.“
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So einig sich die beiden Autoren in der Beurteilung der politischen Lage waren, so unterschiedlich beurteilten sie den zukünftigen Weg aus der Krise. Sherhij Zhadan lies, angesichts des Kriegsterrors, kein gutes Haar an den russischen Künstlern, die jetzt reihenweise Russland verließen, aber in den Jahren zuvor über die Krim und den Krieg im Dombass beharrlich geschwiegen hätten. Khermani wiederum, der eine Gemeinsamkeit aller Künstler im Exil empfindet, verwerte sich gegen eine pauschale Verurteilung und rief zum Brückenschlag und zu einem differenzierten Blick auf, um Ansätze für ein späteres Miteinander in der Zukunft zu finden.
Das weitere Programm des Festivals
Freitag:19 Uhr: Krim, 5 Uhr morgens. Die neueste Geschichte der Krim20.30 Uhr: She and the war. Wie sieht die neue Rolle der Frau im Krieg aus?21.30 Uhr: Konzert mit Laura Marti und Nataliya Lebedeva Trio
Samstag:18 Uhr: Der schwarze Hund. Ein Theaterstück über die Volkskrankheit Depression19.30 Uhr: Erörterung neuer Verträge: Die Schönheit der Einöde. Vom neu zu gestaltenden Leben in der zerstörten Stadt Kherson20.30 Uhr: Imperium delenda est – Lieder, Gedichte, Geständnisse, Flüche und ein Witz. Das Theater Lesi aus Lviv zeigt ihr erstes Werk, das seit der Invasion entstanden ist.
Orangerie Theater im Volksgarten, Volksgartenstraße 25