Köln – Stalin war wieder mal wütend über den Komponisten: Statt der erwarteten bombastischen Siegesfeier lieferte Schostakowitsch anlässlich des Triumphes der Sowjet-Armeen über Hitler-Deutschland mit seiner neunten Sinfonie von 1945 ein eher klein dimensioniertes, in der ersten Anmutung spielerisch-heiteres Werk.
Und als die Wiener Philharmoniker es jetzt in der Kölner Philharmonie darboten, drängte sich angesichts der politisch-militärischen Aktualitäten die Frage auf: Was sagte wohl ein Wladimir Putin, wenn man mit einer derartigen Musik den Krieg der russischen Armee in der Ukraine verherrlichte?
Tatsächlich hat diese Sinfonie mit ihrer stellenweise gassenhauerischen Melodik, mit ihren starken Anleihen bei Mozart (Sinfonie KV 543, ebenfalls in Es-Dur) im ersten und Beethoven („Die Wut über den verlorenen Groschen“) im letzten Satz ein klassizistisches Gepräge. Dabei ist indes in Rechnung zu stellen ist, dass da stets die Ironien und Fallstricke lauern – es handelt sich um eine Kunst der Verstellung, der Masken und der doppelten Gesichter.
Präziser Schlag, täppisches Auftreten
Diese Maske behielt auch der Dirigent Andris Nelsons auf (der Lette wurde in der ausgehenden Sowjetzeit sozialisiert, dürfte also mit der Kultur eines ubiquitären „Als ob“ vertraut sein). Allemal entfesselte der immerhin noch ziemlich große Apparat unter seinem traumhaft präzisen Schlag eine bemerkenswerte Durchsichtigkeit und motorische Brillanz mit herrlich swingenden Synkopen (dies eine Klangwirkung, die durchaus im Kontrast zu Nelsons' etwas täppisch-ungelenkem Auftreten steht).
Aber es kann hier eben nie nur um technische Souveränität gehen, die bei diesem Orchester eh nicht in Frage steht. Und tatsächlich war da auf eine schwer festzumachende Weise noch mehr im Spiel: Warum glaubte man den Klarinetten ihre Terzenseligkeit nicht so recht? Der Cellomelodie im Scherzo-Mittelteil nicht ihre Inbrunst? Wegen der ebenfalls anzutreffenden bösen Blech-Attacken und fahlen Fagott-Farben?
Schostakowitsch, Sofia Gubaidulina (hier zu Beginn ihr mit betörendem Streicher-Sound gespieltes „Märchen-Poem“ von 1971 ) und zum Abschluss Dvoráks sechste Sinfonie – als irgendwie bekenntnishafte Reise durch den in diesen Tagen mal wieder malträtierten osteuropäischen Kulturraum (Polen, Russland, Tschechien) war das Konzert der Gäste angelegt.
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Und siehe da: Auch Dvorák wuchs in dieser Interpretation ein Doppelgesicht zu. Nelsons, auch hier überlegen in der Phrasenspannung und formalen Gliederung, zelebrierte nicht durchweg freundliche Folklorismen, sondern führte Dvoráks wiederholtes „Grandioso“ schmerzhaft aus. Da lud sich der romantische Grundklang der Wiener mit teils verstörender Gewaltsamkeit auf. Sollte da vielleicht der tschechische Nationalismus des 19. Jahrhunderts seine Zähne zeigen?
Die Versöhnung (wenn denn eine notwendig war) kam erst mit der Zugabe: mit Johann Strauß' „Wo die Citronen blüh'n“-Walzer, dessen Chromatik freilich auch so ihre schmerzlich-lasziven Züge hat. Wie auch immer: Die Frage, wer so ein „Über-Wien“ immer noch musikalisch am intensivsten imaginieren kann, wurde hier wieder einmal eindeutig beantwortet.