Flutnacht im AhrtalWusste Innenminister Lewentz früher von der Katastrophe?
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Mainz/Ahrtal – Am Morgen nach der Flutnacht im Ahrtal vom 14. auf den 15. Juli 2021 tagen die Verantwortlichen in der Mainzer Regierungszentrale. Kurz nach acht Uhr erreichen ersten Meldungen über Tote und Vermisste den rheinland-pfälzischen Innenminister Roger Lewentz (SPD). Vieles deutet auf das größte Unglück in der Landesgeschichte hin. Später wird man 134 Tote zählen und 60.000 weitere Flutopfer. Krisensitzungen finden statt, um Hilfsmaßnahmen in den Hochwasserregionen an der Ahr zu koordinieren, der Landtag tagt. Nur einer fehlt dabei: Innenminister Lewentz.
Noch am Abend des 15. Juli betont Lewentz in einem Interview beim SWR, er habe den ganzen Tag „im Katastrophengebiet in dem am schwersten betroffenen Landkreis Ahrweiler verbracht.“ Der Minister vermittelt den Eindruck, sich die ganze Zeit über um Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen gekümmert zu haben.
Lewentz sorgt für medienwirksamen Auftritt von Scholz
Nach Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ nimmt Lewentz allerdings nur vormittags an einer Pressekonferenz des Krisenstabes im Landkreis Ahrweiler teil. Anschließend koordiniert er den Besuch des Parteigenossen und damaligen Bundesfinanzministers Olaf Scholz. Während Zehntausende Menschen im Hochwassergebiet zu retten suchen, was zu retten ist, kümmert sich Lewentz um einen medienwirksamen Auftritt des Kanzlerkandidaten in der Flutregion.
Dies geht aus dem Aussage-Protokoll des Innenministers vor dem Untersuchungsausschuss Ende April hervor, das dieser Zeitung vorliegt. Lewentz schildert darin: An jenem Tag habe er weder an der Kabinetts- noch an den Krisensitzungen teilgenommen. Vielmehr „bin ich in die Befehlsstelle im Polizeipräsidiums Koblenz gefahren, um den damaligen Besuch des Vizekanzlers Olaf Scholz in Bad Neuenahr vorzubereiten“.
Darum gebeten hatte ihn seine Kabinettschefin Malu Dreyer. Lewentz verspricht, zu klären, was möglich sei. Am Nachmittag taucht dann der damalige Bundesfinanzminister flankiert von Dreyer und Lewentz in Bad Neuenahr auf, um von Medien begleitet durch die zerstörte Stadt zu laufen.
Bruchstückhafte Kommunikation mit Feuerwehr
Seit geraumer Zeit ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen zwei Verantwortliche des Krisenstabes in Ahrweiler wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen. Die Nachforschungen belegen, dass die Kommunen im Kampf gegen die Starkregenfront überfordert waren. Die Kommunikation mit den Hilfskräften der Feuerwehr vor Ort funktionierte nur bruchstückhaft. Hubschrauber konnten wegen der Schlechtwetterfront nicht aufsteigen, die Bundeswehr wurde viel zu spät eingeschaltet. Das Lagezentrum im Innenministerium in Mainz (MDI) hatte keine Kenntnis, welches Drama sich im Ahrtal abspielte.
Nun gerät Lewentz unter Druck. Immer wieder hat er betont, dass er erst am Morgen des 15. Juli über die ersten Todesfälle und das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe unterrichtet worden sei. Eine Chronologie der Informationsflüsse, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erstellt hat, lassen daran zweifeln.
Innenstaatssekretär meldet sich schon um 18 Uhr
Entgegen der ministeriellen Darstellung meldet sich bereits um 18 Uhr am 14. Juli Innenstaatssekretär Randolf Stich (SPD) bei seinem Chef. Seiner Aussage zufolge drohte der Campingplatz Stahlhütte in Dorsel zu überfluten. Wohnwagen seien abgetrieben worden. Camper hätten sich auf die Dächer ihrer Mobilheime gerettet. Lewentz zeigt sich zwar alarmiert, besucht allerdings dann auf Anraten seiner Mitarbeiter gegen 19.20 Uhr den Krisenstab (TEL) für den Landkreis Ahrweiler. Dort habe ihm der Einsatzleiter berichtet, man habe alles im Griff, erzählt der Minister später. Dass zu jener Zeit die Häuser im Eifelort Schuld an der Oberahr einstürzen, will er nicht gewusst haben.
Allerdings gibt der Lokal-Journalist Willi Willig in seiner Vernehmung durch die Polizei eine andere Version zu Protokoll. Gegen 19.50 Uhr an jenem 14. Juli habe sein Sohn den Wagen des Ministers bei der Fahrt auf der Autobahn 61 auf der Gegenspur erkannt. Daraufhin will der TV-Reporter Lewentz angerufen haben.
Haus sei von Hochwasser weggespült worden
Der SPD-Politiker habe im Gespräch bekundet, dass er gerade aus Ahrweiler komme, die Lage im Ahrtal sei katastrophal. Er, Lewentz, befinde sich jetzt auf dem Weg nach Trier, dort sehe es noch schlimmer aus. Als der Journalist sich erkundigt, wo man die besten Bilder finden könne, empfiehlt der Minister ihm nach Schuld an die Oberahr zu fahren. Dort sei mindestens ein Haus vom Hochwasser weggespült worden. Alternativ habe Lewentz aber auch einen Dreh am überfluteten Campingplatz Stahlhütte in Dorsel empfohlen. Hier müssten die Menschen von den Dächern der Wohnwagen gerettet werden.
Lewentz hingegen behauptet bis heute, dass er erst am späten Abend des 14. Juli gesicherte Erkenntnisse über die sich anbahnende dramatische Lage erhalten habe.
Horrormeldungen häufen sich schon gegen 22 Uhr
Zuständig für Hochwasserprognosen simste die Chefin des Landesumweltamtes bereits um 18.44 Uhr an den Staatssekretär des Innern: „Hier bahnt sich eine Katastrophe an.“ In der Mainzer Regierungszentrale aber kann man sich daran nicht erinnern. 21.27 Uhr, 21.43 Uhr, 22.30 Uhr – immer wieder laufen neue Horrormeldungen beim Innenministerium ein. Demnach spitze sich die Hochwasserlage in Schuld und anderswo zu. Vehement fordert eine Polizeiführerin aus Koblenz beim Lagezentrum des Innenministeriums Hilfskonvois mit schwerem Gerät an. Mit wenig Erfolg.
Lewentz selbst fährt schließlich nach eigenen Angaben nach Hause und lässt sich fortlaufend unterrichten. Dennoch muss er aus dem Fernsehen erfahren, dass bereits drei Landkreise den Katastrophenalarm ausgelöst hatten.
Erst gegen 23.04 Uhr will Lewentz über die bedrohliche Gefahrenlage in Orten wie Schuld informiert worden sein.
„Liebe Malu, die Lage eskaliert“
Kurz vor ein Uhr in der Nacht alarmiert der Innenressortchef die Ministerpräsidentin: „Liebe Malu, die Lage eskaliert.“ In Schuld seien sechs Häuser eingestürzt. „Es kann Tote geben/gegeben haben.“ Die Lage sei derzeit sehr unübersichtlich.
Im September soll der Landesinnenminister zum zweiten Mal seine Rolle während der Flutnacht und danach im Untersuchungsausschuss erläutern. Christian Baldauf, CDU-Fraktionschef, wettert: „Lewentz handelte in der Flutnacht wie ein Kapitän, der erst gar nicht auf die Kommandobrücke ging. Er hat zu keiner Zeit Verantwortung übernommen. Sein Handeln erschöpfte sich im Warten auf Lagebilder, während die Flutwelle die Menschen in den Tod riss.“