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Nach der Amokfahrt in Magdeburg„Das Sicherheitskonzept hier können Sie vergessen“

Lesezeit 6 Minuten
Auf dem Platz vor der Oper haben Menschen Kerzen und Blumen niedergelegt.

Auf dem Platz vor der Oper haben Menschen Kerzen und Blumen niedergelegt.

Am Tag nach der Amokfahrt in Magdeburg gibt es unter Anwohnern ein Diskussionsthema: Wie war diese Tat überhaupt möglich? Gab es Lücken im Sicherheits­konzept?

Wenige Minuten bevor Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Samstag vor der Presse in Magdeburg seine Anteilnahme ausdrückt, ertönt vom Rathaus der Stadt das traditionelle Glockenspiel. „Fröhliche Weihnacht überall, tönet durch die Lüfte froher Schall“ ist zu hören. Eine fröhliche Melodie, die die Magdeburger seit Wochen begleitet – und die an diesem Tag doch unpassender kaum sein könnte. Die Weihnachtsstimmung ist den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt spürbar vergangen.

Er könne gar nicht in Worte fassen, was da gestern passiert sei, sagt Claus-Dieter Lösche dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vor Ort. Was in dem Tatverdächtigen wohl vorgegangen sein muss – das sei mit dem menschlichen Verstand kaum zu begreifen.

Lösche steht am Straßenrand und beobachtet still die Szenerie. Vor dem Eingang zum Weihnachtsmarkt am Alten Markt stehen mehrere Polizeibusse, in der Straße davor mehrere gepanzerte Limousinen, die den Bundeskanzler schützen sollen. Das Gelände selbst ist seit Freitagabend abgesperrt.

An der Bahnstation direkt daneben stehen Hunderte Menschen in einer Reihe. Die einen aus Neugier, die anderen, um zu trauern. Manche besprechen sich mit Freunden und Bekannten, um das Geschehene zu verarbeiten. Und andere stehen einfach nur so da, und blicken auf den Tatort. Lösche sagt: „Das ist eine ganz merkwürdige Ruhe, die über der Stadt liegt. Das gibt es sonst so nicht.“

Wie konnte das passieren?

Die Frage nach dem „Warum“ lässt sich an diesem Samstag vor dem Alten Markt nicht beantworten – viele Menschen sind hier genauso fassungs- und sprachlos wie Lösche. Die Biografie des mutmaßlichen Attentäters ist konfus, ein genaues Tatmotiv lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer ableiten. Aber die Menschen vor Ort bewegt noch eine andere Frage: Wie konnte all das überhaupt passieren?

Matthias, der seinen Nachnamen nicht verraten will, betrieb bis Freitagabend ein Kinder­fahrgeschäft auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt – einen sich drehenden Weihnachts­baum. Er sagt dem RND: „Das Sicherheitskonzept hier, das können Sie vergessen.“ Die Polizei habe auf dem Markt zwar Präsenz gezeigt, aus Sicht von Matthias aber zu wenig. Dass der Täter mit seinem Fahrzeug einfach so über den Markt rasen konnte, ohne von den Beamten aufgehalten zu werden, stößt bei dem Fahrgeschäftsbetreiber auf Unverständnis.

Screenshot Grafik RND

Screenshot Grafik RND

Andere Passanten haben andere Theorien. Eine Gruppe debattiert über die Anti-Terror-Sperren, die rund um den Markt aufgebaut wurden. Diese haben an gleich mehreren Stellen Lücken: an einer Einfahrt und an einer Fußgängerampel entlang der Ernst-Reuter-Allee zum Beispiel. An dieser Stelle bog der Tatverdächtige mit seinem gemieteten BMV-SUV zunächst langsam auf den Bürgersteig des Breiten Wegs ein, der zentralen Einkaufsstraße Magdeburgs. Er fuhr dann ein Stück Richtung des Weihnachtsmarkts, verletzte hier bereits die ersten Passanten.

Dann bog er nach rechts auf den Alten Markt ein, beschleunigte stark und raste in gerader Linie durch den Weihnachtsmarkt. Vor dem Rathaus am anderen Ende des Alten Markts bog er wieder rechts ab, dann ein weiteres Mal rechts und landete erneut auf der Ernst-Reuter-Allee. Kurz vor der Kreuzung mit dem Breiten Weg musste er verkehrsbedingt halten und wurde dort von herbeigeeilten Polizeibeamten überwältigt, die tödliche Runde dauerte nur drei Minuten. So teilte es die Polizei am Samstagnachmittag auf einer Pressekonferenz mit.

Matthias aber zeigt auf die vielen Polizeibusse, die an diesem Samstag den Eingangsbereich des Marktes am Breiter Weg schützen. „Hätten die gestern dort gestanden, wäre die Tat möglicherweise nie passiert“, glaubt er zu wissen. Ihm sei klar, dass die Anti-Terror-Sperren auch Lücken brauchen, um Rettungseinsätze zu gewährleisten. Doch sie dürften nicht zu Schlupflöchern für Attentäter werden, meint er.

Sicherheitsexperten sehen Mängel

Ob die Analyse der Passanten den Kern des Problems trifft, steht auf einem anderen Blatt Papier. Aber: Ihre Bedenken decken sich durchaus mit der Einschätzung von Fachleuten. Hans-Jakob Schindler, Extremismus- und Terrorismusexperte vom Counter Extremism Project, zeigte sich gegenüber dem ZDF überrascht von dem Ausmaß des Anschlags in Magdeburg. „Es muss hier irgendwo eine Lücke im physischen Sicherheitskonzept des Weihnachtsmarkts gegeben haben“, so Schindler. Die Lücke müsse der Fahrer dann ausgenutzt haben.

Und nicht nur das: Offenbar war der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit 400 Meter durch die Menschenmenge gerast, wie Videos zeigen, die in den sozialen Medien geteilt wurden. „Das dürfte überhaupt nicht mehr möglich sein“, sagt der Terrorismus-Experte dem Sender. Der gesamte Bereich müsste so abgesperrt sein, „dass da nichts durchkommt“.

Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) hatte am Samstag mitgeteilt, dass das Sicherheits­konzept für sämtliche Weihnachtsmärkte des Bundeslandes nun noch mal verschärft werde. In den kommenden Tagen werde es erhöhte Polizeipräsenz geben. Zum anderen setze man auf eine verstärkte Kontrolle der Zugangswege, zum Beispiel auch mit Standposten der Polizei. Eine intensivere Überwachung der Straßen sei ebenfalls geplant.

„Wir können uns nicht komplett abschotten“

Viele Anwohnerinnen und Anwohner allerdings stellen sich an diesem Samstag schützend vor die Organisatoren des Marktes. „Was wollen wir denn machen? Wir können uns gar nicht komplett abschotten“, sagt eine Frau die ihren Namen nicht nennen will. Und auch zwei ältere Damen bezweifeln, dass man die Stelle entlang der Straßenbahn überhaupt schützen könne. „Das ist ein offener, belebter Platz, an der Haltestelle ist immer viel Betrieb.“ Für große Anti-Terror-Poller und Absperrungen sei da schlicht kein Platz.

Eine Frau, die sich Astrid nennt, sagt: „Ich habe mich auf dem Weihnachtsmarkt nie unsicher gefühlt. Vor so etwas wie gestern Abend kann man sich einfach nicht schützen.“ Claus-Dieter Lösche sagt, es sei immer ein schmaler Grat zwischen totaler Absicherung und maximaler Freiheit – das zeige nun auch dieser Fall wieder einmal. Er mache niemandem der Organisatoren einen Vorwurf.

Gedenkstunde im Dom

Neben der Diskussion um mögliche Sicherheitsmängel bestimmt am Samstag vor allem die Trauer die Stadt. Im Magdeburger Dom wird es um 19 Uhr eine Gedenkstunde für die Opfer des Anschlags geben, vor der Johanniskirche direkt gegenüber des Alten Markts legten am Samstag zahlreiche Anwohnerinnen und Anwohner Blumen und Kerzen nieder.

Zahlreiche Kerzen, Blumen und Kränze liegen beziehungsweise stehen vor dem Eingang der Johanniskirche. Am 20. Dezember 2024 ist auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg ein Autofahrer in eine Menschengruppe gefahren.

Zahlreiche Kerzen, Blumen und Kränze liegen beziehungsweise stehen vor dem Eingang der Johanniskirche. Am 20. Dezember 2024 ist auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg ein Autofahrer in eine Menschengruppe gefahren.

Kanzler Olaf Scholz sprach am Samstag vor Ort von einem „furchtbaren und tragischen Ereignis“. „Was für eine furchtbare Tat ist das, dort mit solcher Brutalität so viele Menschen zu verletzen und zu töten.“ Er appellierte, gerade in dieser Stunde zusammenzuhalten. „Das geht zutiefst zu Herzen“, so Scholz. „Wir werden und wir müssen hier zusammenstehen.“

Ersthelfer berichtet von dramatischem Einsatz

Auch Matthias, der auf dem Markt das Kinderfahrgeschäft betrieben hatte, wird der Tag noch lange beschäftigen. Er war am Freitagabend unmittelbar vor Ort und leistete Ersthilfe. „Als ich hörte, dass es ein Auto war, das auf den Markt gefahren ist, war mir das Ausmaß sehr schnell bewusst“, sagt er. Er sei dann wie in Trance über den Markt gelaufen und habe versucht zu helfen.

Mittlerweile ist klar: Fünf Menschen sind am Freitagabend durch die Tat gestorben, rund 200 Menschen wurden dabei verletzt. „Ich habe gesehen wie Menschen reanimiert wurden, ich habe Kinder schreien gehört.“ Gerade Letzteres bekomme er so schnell vermutlich nicht mehr aus dem Kopf.

Und als Matthias schließlich verstummt und sich verabschiedet, ist sie wieder da: die gespenstische Ruhe in der Innenstadt. Und die Fassungslosigkeit.