Köln/Westerland – Sylts Albtraum hört auf die Namen Jörg und Koko und diskutiert darüber, ob er die Nacht in den Dünen, am Strand oder an keinem von beiden Orten schlafen darf. „Für drei Euro fünfzig Kurtaxe können wir an den Strand“, sagt Jörg und bietet jedem von uns eine Zigarette an. „Die Naturschutzverordnung sagt, man kann in den Dünen nicht zelten, aber am Strand schon.“ „Nein, ich sag doch“, erwidert Koko leicht genervt, „ich bin mir sicher, dass man am Strand nicht pennen kann.“
Jörg und Koko stehen am Bahnhof Itzehoe, tragen die Haare an der Seite kurz, in der Mitte länger und fahren heute, am 1. Juni mit dem Neun-Euro-Ticket nach Sylt. Einfach, weil sie es dreist fanden, dass die Menschen auf Sylt scheinbar keine Punker auf der Insel wollen. Aus Kokos Handy dröhnt ein Aufruf der Organisatoren von „Aktion Sylt“:
Deutschlands nördlichster Punkt, die Insel mit der praktischen Neun-Euro-Ticket Zugverbindung, man dürfe sie diesen Sommer einfach nicht den Reichen überlassen. Tun Jörg und Koko nicht.
Aber von vorne: Der Geschäftsführer von Sylt Marketing hatte vor etwa einem Monat gewarnt, die Insel sei nicht für das 9-Euro-Ticket gerüstet. Die Insulaner im hohen Norden, sie schienen besorgt über feierwütige, geringverdienende Studierende und Jugendliche, die den Sommer dank 9-Euro-Ticket auf Sylt statt am Ballermann verbringen. Und provozierten damit genau diese Idee: #Syltentern-Hashtags, Memes und Flashmob-Aufrufe füllten den Mai über die Sozialen Medien.
Synonym für ein 9-Euro-Ziel
Westerland, das kein 9-Euro-Ticket-Zielort werden wollte, wurde, nun ja, das Synonym für ein 9-Euro-Ticket-Ziel.
Auch für uns.
Zugegeben: Es ist nicht unsere originellste Idee. Fast haben wir erwartet, im Zug noch auf dutzende andere Journalisten zu treffen, die ebenfalls einem „Lasst uns mal am 1. Juni für eine Reportage mit dem 9-Euro-Ticket nach Sylt fahren“-Auftrag nachgehen. Die werden wir auf unserer fast zwölfstündigen Reise zwar kaum treffen, dafür Kommunalpolitiker, die Fußgängerampeln überflüssig finden, einen Kartenkünstler, der das Pik-Ass um seine Finger fliegen lässt und eben Jörg, Koko und Achim: Die Punker von Sylt.
Los geht es um 7:07 Uhr am Kölner Hauptbahnhof mit dem RE6 nach Minden. Der Regio-Zug verlässt pünktlich den Hauptbahnhof, am Bahnsteig zurück bleiben Kameraleute und BILD-Mikrofone. Wir haben es ja geahnt.
Der Regio-Zug ist fast leer, der typische Zug-Menschen-Mix ist trotzdem da: Der junge Mann mit der Bomberjacke und den Airpods in den Ohren, die Frau, die hinter ihrem übergroßen Reisekoffer verschwindet, der Hemdträger mit aufgeklapptem Laptop. Und: Kommunalpolitiker.
Gesprächsfetzen von Politikern
Welcher Partei wissen wir nicht, aber wir hören, dass Wahlplakate mit Lastenrädern ein ziemliches Klischee sind, die CDU bei Schützenfesten fast überall präsent ist („nicht mein Niveau“) und der Kämmerer leider, leider ein elender Blockierer ist. Ab und zu fliegen Gesprächsfetzen herüber.
Politiker 1: Ich bin mittlerweile völlig gegen Fußgängerampeln. Sie zwingt den Autofahrer zum Anhalten.
Politiker 2: Ja.
Das Auto stehen lassen
8:27 Uhr, erster Umstieg: Essen. „Hab schon fast vergessen, wie laut die Scheiß-DB-Ansagen sind“, sagt ein Mann mit dem Handy am Ohr, während er in den Zug nach Osnabrück steigt. Wenigstens ihn, vom Dialekt her eindeutig Norddeutscher, scheint das 9-Euro-Ticket zum Nahverkehr gebracht zu haben: Er ließ sein Auto stehen, sagt er ins Telefon.
Wir sitzen in unserem zweiten Zug und haben bereits 14 Minuten Verspätung. So lange standen wir in Recklinghausen zwischen Parkplätzen und Plattenbau. Umstiegszeit in Osnabrück: Ebenfalls 14 Minuten.
Es gibt definitiv schönere Orte, an denen der Zug stecken bleiben kann als Recklinghausen.
Hallo Osnabrück, Tschüss Osnabrück
Aber am Ende klappt es doch: Der Zug wartet auf der gegenüberliegenden Seite, hallo Osnabrück, tschüss Osnabrück, schon sitzen wir im RE9 nach Bremen, fahren durch Wiesen und Felder, irgendwo in Niedersachsen, wo der Ausbau des Internets noch langsamer schleicht als unser vorheriger Zug in Recklinghausen. Die 5G-Offensive, sie lässt eben noch auf sich warten.
Bremen Hauptbahnhof. Eigentlich wollten wir hier nur 44 Minuten bleiben, fast wäre es deutlich mehr geworden und diesmal wäre nicht die Deutsche Bahn Schuld gewesen, denn am Gleis vergessen wir fast in den Zug einzusteigen, weil wir uns mit Mathis angefreundet haben. Mathis, 19 Jahre alt, kommt aus Wilhelmshaven, hat gestern seine letzte Abiprüfung geschrieben und will jetzt zu einem Cardistry-Event in Hamburg. Bitte was?
Aber Mathis zieht schon zur Erklärung ein Kartenset aus der Jackentasche und lässt die Karten tanzen, um seine Finger, von einer Hand in die andere, er teilt und schließt den Stapel innerhalb von Millisekunden und lässt es dabei so kunstvoll und leicht aussehen, als wüsste das Pik-Ass ganz genau, wohin es fliegen soll.
70 Künstler aus 12 Ländern kommen für das Event nach Hamburg, sagt Mathis, direkt im Anschluss will er nach New York fliegen, dort weitere Künstler zu treffen und danach nach San Diego, einfach zum Urlaub machen. Im Sommer, zurück in Deutschland, sagt er, wird er vor dem Studium noch ein bisschen mit dem Neun-Euro-Ticket herumfahren. Nach Berlin zum Beispiel.
Und natürlich nach Köln.
Hamburg Hauptbahnhof, eigentlich wollten wir hier nur 23 Minuten blieben, nicht eine ganze Stunde. Aber: „Signalstörung“, verkündet die Lautsprecherdurchsage am Gleis, die man eigentlich nur hören will, wenn sie ankündigt: „Achtung bei der Einfahrt des Zuges.“ Diese Ankündigung hören wir jedoch mit 35 Minuten Verspätung.
Vorbei an Herzhorn und Glückstadt
NBE RB 61: Hamburg-Itzehoe. Wir fahren durch Wiesen, Felder, noch mehr Kuhweiden, dörfliches Nirgendwo und Orte mit wundervollen Namen wie „Herzhorn“ und „Glückstadt“. Der erwartete Ansturm auf die Züge, den die DB befürchtet hatte, die vollen Waggons und eng aneinandergedrängten Fahrgäste bleiben aus. Erstmal.
Ohne den verpassten Anschlusszug in Itzehoe hätten wir wiederum nicht Jörg und Koko getroffen, die Punker auf dem Weg nach Sylt.
Hamburg Sylt - einen ganzen Sommer lang
„Wir wollen keine Randale machen“, beteuert Koko. Nur ein paar alte Punker-Freunde treffen, am Strand von Westerland. Er habe eine Isomatte dabei, einen Schlafsack und werde sich nun erstmal eine Woche die Insel genießen. „Dann geht es irgendwann wieder zurück nach Hamburg und ich überlege, danach einfach wieder hin zu fahren.“ Er grinst. „Bis August können wir ja noch zweimal Neun-Euro-Tickets ziehen.“
„ACHIM!“, brüllt Jörg dazwischen und Achim, ebenfalls Punker, ebenfalls mit Zigarette in der Hand, ebenfalls mit angegrauten Haaren, geht den Bahnsteig entlang auf uns zu. „Wir sitzen hier gerade mit ein paar Journalisten, komm dazu!“ Doch Achim hebt nur die Hand, sagt nicht viel. Er kommt gerade von Sylt, er habe es langweilig gefunden. Als der Zug nach Westerland endlich einfährt, bleibt er am Bahnsteig stehen, Jörg und Koko steigen ein. „Achim, kommste sicher nicht mit?“, ruft Koko aus der offenen Tür heraus. Aber Achim, der wohl erste 9-Euro-Punker aus Sylt, hat nach ein paar Stunden schon genug.