Eren Güvercin (43) ist einer der lautesten Kritiker des politischen Islams, gläubiger Moslem – und besorgt über die Stimmung in Deutschland.
Bedrohter Islam-Kritiker„Haltung zu zeigen gegen Islamisten, ist für mich eine Selbstverständlichkeit“
Herr Güvercin, Sie sind aktuell die wohl lauteste Stimme, wenn es um die Nähe des türkischen Präsidenten Erdogan zur Hamas, die Haltung von Islamverbänden in Deutschland zu Israel oder die deutsche Religionspolitik geht. Sie werden regelmäßig von türkeistämmigen Nationalisten als Terrorist und Verräter beschimpft, auch bedroht. Was heißt es für Sie, einer der bekanntesten Kritiker des politischen Islams zu sein?
Es sind nicht nur Nationalisten, die mich beleidigen oder bedrohen, es sind Zeitungen, die von Erdogans AKP kontrolliert werden, die einen als Terroristen bezeichnen, weil man Kritik übt. Das sind Einschüchterungsversuche, aber mir ist mein Glaube, den meine Eltern mir vermittelt haben, zu wichtig, als dass ich mich von diesen Akteuren zum Schweigen bringen lasse. Sie müssen damit leben, dass ich als deutscher Muslim nicht schweige, wenn Erdogan die Hamas-Terroristen als Glaubenskämpfer bezeichnet. Haltung zu zeigen gegen Islamisten, Autokraten und muslimische Antisemiten, die meinen Glauben politisch instrumentalisieren, ist für mich eine Selbstverständlichkeit.
Sie haben Familie. Sind Sie Sorge?
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Ich bin mit den Sicherheitsbehörden im Austausch. Man ist aufmerksamer als sonst. Aber ich mache mir keine Sorgen und werde mich nicht einschüchtern lassen. Ich glaube, bei solchen Kampagnen geht es nicht nur um meine Person, es ist ein Signal an Andere. Jeder soll sich genau überlegen, ob er oder sie öffentlich Kritik übt. Erdogan und seiner Propagandamaschinerie geht es nicht nur darum, Kritiker in der Türkei mundtot zu machen, sondern auch bei uns in Deutschland. Das sollte unsere Politik nicht ignorieren.
Was sollte die Politik aus Ihrer Sicht tun?
Die Politik sollte die Einflussnahmestrategie der Türkei wahrnehmen und dem etwas entgegensetzen. Wir sprechen seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine klarer über Desinformation und Einflussnahme aus Moskau. Ähnlich agiert die Türkei schon seit einigen Jahren. Wir müssen der religionspolitischen Einflussnahme Ankaras über die DITIB und der aggressiven Diasporapolitik etwas entgegensetzen. Und unsere Politik sollte Ankara auch klar ihre Grenzen aufzeigen. Da passiert zu wenig.
Sie haben gesagt: „Nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israelis haben die muslimischen Verbände zunächst massiv geschwiegen. Als dann die Stellungnahmen kamen, da wünschte man sich, sie hätten weiter geschwiegen.“ Warum?
Weil die Stellungnahmen der Verbände für mich als Muslim beschämend waren. Sie haben den Terror der Hamas relativiert, und sie waren nicht in der Lage, die Hamas als das zu bezeichnen, was sie ist: eine Terrororganisation. Da darf es kein „ja, aber“ geben, da darf man nicht von „beiden Seiten“ sprechen. Die Verbände haben mit diesen Stellungnahmen gezeigt, dass sie nicht nur keine Religionsgemeinschaften sind - sie haben auf ganzer Linie versagt.
Die Ditib hat sich in Köln mit der Synagogen-Gemeinde getroffen und öffentlich Solidarität bekundet. Es gibt auch Erklärungen zum Beispiel des Bundesinnenministeriums und der NRW-Staatskanzlei mit muslimischen Verbänden. Ist das nicht erstmal ein richtiges Signal?
Nein, das ist nur Augenwischerei. Die gemeinsame Erklärung und der Besuch der Synagogen-Gemeinde ist erst nach öffentlichem und politischem Druck zustande gekommen. Und was ist von einer sogenannten gemeinsamen Erklärung zu halten, die nicht auf den Webseiten der Verbände zu finden ist? Die Verbände beherrschen eine doppelte Kommunikation, das heißt: das, was sie Richtung Politik kommunizieren, kommunizieren sie nicht in ihre Gemeinden. Synagogen-Besuche helfen uns nicht weiter, wenn es keine klare Haltung gegen den muslimischen Antisemitismus und Israelhass gibt. Synagogen dürfen nicht zu Fototapeten für die PR muslimischer Verbandsfunktionäre degradiert werden.
Eren Güvercin: Die Sicherheit von Jüdinnen und Jude ist auch unsere Verantwortung als deutsche Muslime
Wie erleben Sie die Stimmung, wenn Sie wie vor ein paar Tagen in der Jüdischen Gemeinde in Hanau auftreten?
Das Sicherheitsgefühl der jüdischen Gemeinden hat sich seit dem 7. Oktober massiv verschlechtert. Jüdinnen und Juden in Deutschland haben Angst. Solidarität aus der muslimischen Community ist nicht vorhanden, wenn es keinen politischen Druck gibt. Das wird auch langfristig Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Zusammenleben haben. Umso wichtiger ist es, dass Muslime jenseits der muslimischen Verbände eine klare Haltung zeigen. Die Sicherheit von Jüdinnen und Juden bei uns in Deutschland ist auch unsere Verantwortung als deutsche Muslime.
Das religiöse Oberhaupt der Diyanet hat gesagt: Israel ist „Mörder und Besatzer und wird wie alle Tyrannen in der Geschichte vernichtet werden“, die türkische Diyanet hat Predigten veröffentlicht, worin der Terror der Hamas als notwendiger Widerstand bezeichnet wird. Auch dazu nichts von der DITIB in Deutschland. Sollte die deutsche Politik Konsequenzen daraus ziehen?
Dazu wird es keine klare Haltung der deutschen DITIB geben, denn der antisemitische Hetzer Ali Erbas ist nicht nur das religiöse Oberhaupt der DITIB, sondern er ist auch der oberste Dienstherr der DITIB-Imame. Die Diyanet bezahlt diese Imame und diese Imame und die DITIB-Führung sind türkische Staatsbeamte. Was wir im Umgang mit Verbänden wie die DITIB brauchen, ist eine religionspolitische Zeitenwende. Der Umgang mit den Verbänden muss auf den Prüfstand, wenn die Politik auf Bundes- und Landesebene nicht an Glaubwürdigkeit verlieren will. Die Strategie „Wandel durch Nähe“ ist gescheitert.
Welche Rolle spielt die Religion aus Ihrer Sicht im Nah-Ost-Konflikt?
Der Nahostkonflikt ist kein rein religiöser Konflikt. Aber neben dem palästinensischen Ultranationalismus spielt auch die Religion eine Rolle. Das darf man nicht negieren, denn die Terrororganisation Hamas missbraucht die Religion für seine Vernichtungsfantasien Richtung Israel und für seinen Antisemitismus. Und diese Terrorpropaganda der Hamas zeigt auch Wirkung bei uns in Deutschland und befeuert den muslimischen Antisemitismus in Teilen der muslimischen Community bei uns.
Im Netz regieren Emotionen und Polarisierung, Hass und Hetze. Sie sind selbst sehr aktiv auf Social Media – warum?
Weil ich im Rahmen meiner Möglichkeiten andere Akzente der islamistischen Hetze entgegensetzen möchte. Neben den zahlreichen Beleidigungen und Drohungen erreichen mich auch viele Nachrichten von jungen Muslimen, die sich bedanken. Sie erleben in ihrem Umfeld Muslime, die islamistischer Propaganda auf den Leim gehen und sich von antisemitischen Narrativen beeinflussen lassen. Meine Worte und Haltung geben diesen jungen Menschen in dieser sehr angespannten und emotionalisierten Lage Orientierung.
Ist über Social Media Aufklärung und eine Differenzierung von Diskursen möglich?
Man wird nur mit Aufklärung über Social Media muslimischen Antisemitismus und Israelhass bekämpfen können, aber Social Media ist ein Tool, was insbesondere für junge Menschen wichtig ist. Da brauchen wir mehr Gegenangebote.
Die Debatte um die Terrorangriffe der Hamas und die israelische Antwort darauf schafft neue Spaltungen. Welche Gefahren sehen Sie in den kommenden Wochen und Monaten für die Gesellschaft in Deutschland?
Ich fürchte, dass die Polarisierung bei uns weiter zunehmen wird. Weil die muslimischen Verbände leider darin versagen, den Muslimen Orientierung zu geben, dominieren islamistische Akteure den Diskurs. Diese versuchen mit Desinformation die Menschen zu emotionalisieren und zu ideologisieren, um sie dann für Demonstrationen zu mobilisieren. Diese ideologische Haltung ist auch in den Verbandsstrukturen zu beobachten. Wir müssen davon ausgehen, dass die Demonstrationen zunehmen werden.
Und welche Möglichkeiten der Verständigung und Versachlichung sehen Sie?
Ich habe volles Verständnis dafür, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland aktuell reserviert sind, wenn es um den jüdisch-muslimischen Dialog geht. Aber daran führt kein Weg vorbei. Hier liegt die Verantwortung aber bei uns deutschen Muslimen. Wir dürfen den muslimischen Antisemitismus nicht mehr relativieren, sondern müssen uns damit aufrichtig und selbstkritisch auseinandersetzen. Mit den muslimischen Verbänden wird das nicht funktionieren. Umso mehr sind alle anderen Muslime jetzt in der Pflicht.
Gäbe es für Sie einen Punkt, an dem Sie sagen: Ich bin raus aus der öffentlichen Debatte über den Islam?
Nein. Schweigen und Rückzug ist keine Option. Mein Glaube ist für mich von zu großer Bedeutung, dass ich irgendwann zu den Herausforderungen, vor denen wir als deutsche Muslime stehen, schweigen würde. Ganz im Gegenteil: Jetzt muss man erst recht seine Stimme erheben und Haltung zeigen. Das sehe ich als meine religiöse Pflicht an.
Interview: Uli Kreikebaum
Zur Person: Eren Güvercin, 43, ist Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und einer der Gründer der Alhambra-Gesellschaft Gesellschaft, eines Vereins von deutschen Muslimen. Güvercin betreibt den Podcast „Die Dauernörgler“ über das Zeitgeschehen aus muslimischer Perspektive. Er ist Mitglied der FDP. Seit sieben Jahren reist der Familienvater aus Sorge vor Repressalien wegen seiner Kritik am autoritären Regime Erdoğans nicht mehr in die Türkei. Er sagt von sich, er sei ein gläubiger Muslim, der seine Religion praktiziert und zum Beispiel im Ramadan fastet – und während des Fastenmonats aufs Rauchen verzichtet. Eren Güvercin bezeichnet sich als deutschen Muslim.