Christoph Heusgen mahnt Israel, die Hamas sei rein militärisch nicht zu besiegen. Der frühere UN-Botschafter ruft den Westen auf, gegen Russland nicht klein beizugeben.
Chef der Münchner Sicherheitskonferenz„Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist apokalyptisch“
Herr Heusgen, Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine dauert schon fast zwei Jahre. Hat die Ukraine noch eine Chance, die Russen wieder zurückzudrängen?
Heusgen: Die Gegenoffensive der Ukrainer ist in ein schwieriges Fahrwasser gekommen. Aber sie sind sehr entschlossen, ihr Land zu verteidigen und alle von Russland eingenommenen Gebiete zurückzuerobern. Es liegt aber auch an uns, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen. Wie es der Bundeskanzler sagt: so lange wie nötig. Wir müssen Putin zeigen, dass er nicht am längeren Hebel sitzt.
Glauben Sie an Ihre diplomatische Antwort?
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Deutschland hat die Wiedervereinigung hinbekommen. Es hat vielleicht länger gedauert, als man zu Beginn gedacht hat. Auf der anderen Seite ist es schneller gegangen, als viele geglaubt haben. Aber: Wir haben immer an die deutsche Einheit geglaubt. Wir dürfen im Fall der Ukraine jetzt nicht klein beigeben, nur weil es nicht so schnell vorangeht wie erhofft. Das ist das, worauf Putin setzt. Die ganze europäische Friedens- und Sicherheitsordnung steht auf dem Spiel. Setzt sich Russland durch mit seinem Zivilisationsbruch und der Verletzung internationalen Rechts, bringt es andere Staaten dazu, dem nachzueifern.
Kritiker von Waffenlieferungen pochen auf Friedensverhandlungen. Wird die Ukraine am Ende auf Gebiete verzichten und einen Waffenstillstand schließen, der viel eher möglich gewesen wäre?
Putin wollte nie Verhandlungen. Solange er nicht auf seinen völkerrechtswidrigen Gebietsanspruch verzichtet, sehe ich auch keine Grundlage dafür. Wobei man es immer wieder versuchen muss.
Der Bundeskanzler will der Ukraine keine Taurus-Marschflugkörper liefern, weil befürchtet wird, Kiew könnte sie womöglich auf russisches Staatsgebiet lenken. Ist das begründet?
Ich sehe keinen Grund, warum wir Taurus nicht liefern sollten. Dass die Ukraine Taurus auf russisches Gebiet abfeuern würden, ist eine Unterstellung – wenngleich sie das als angegriffene Nation sogar laut Völkerrecht dürfte. Kiew hat sich bisher aber an alle Vorgaben der Nato-Staaten gehalten.
Zu einem anderen Krieg: Deutschland hat sich bei zwei UN-Resolutionen enthalten, die eine humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen vorsehen, aber nicht auf die bestialischen Attacken von Hamas-Terroristen auf israelische Zivilisten am 7. Oktober eingehen. Finden Sie die Enthaltung richtig?
Die radikalislamistische Hamas hat israelische Zivilisten am 7. Oktober menschenverachtend und brutal überfallen. Ein Verbrechen. Das wird in den Resolutionen nicht erwähnt. Insofern kann ich nachvollziehen, dass sich die Bundesregierung enthält. Deutschland hat sich aber immer für das internationale humanitäre Recht eingesetzt. Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist apokalyptisch. Wenn man das Leid der palästinischen Bevölkerung mit Tausenden getöteter Kindern sieht, wäre eine Zustimmung zur Waffenruhe vertretbar gewesen. Die Mehrheit der EU-Staaten und insgesamt zwei Drittel der Weltgemeinschaft haben für die Resolution gestimmt.
Die USA nicht.
US-Präsident Joe Biden hat aber davon gesprochen, dass Israel willkürlich bombardiere. Das ist völkerrechtswidrig, weil das humanitäre Völkerrecht nur gezielte Schläge auf militärische Einrichtungen erlaubt.
Also hält Israel das Völkerrecht nicht ein?
Die letzte UN-Resolution zum Friedensprozess im Nahen Osten stammt von 2016, Resolution 2334. Darin wird Israel wegen des Siedlungsbaus in Palästinensergebieten Verletzung des Völkerrechts vorgeworfen. Das ist eine von den Amerikanern mitgetragene UN-Sprache. Es geht nicht, dass die israelische Seite versucht, die palästinensische Bevölkerung nach Ägypten zu vertreiben, und im Westjordanland jüdische Siedler Palästinensern mit Gewalt Land wegnehmen. Das widerspricht dem Völkerrecht.
Ist die Zwei-Staaten-Lösung ferner denn je?
Bei der Fortsetzung dieser Bombardierungen ist der langfristige Plan für eine friedliche Lösung nicht zu erkennen. Wir müssen jetzt alles tun, dieses schreckliche Leiden der Menschen zu beenden. Es ist zu verurteilen, dass die Hamas Israel das Existenzrecht aberkennt. Es geht auf der anderen Seite nicht, dass der israelische Finanzminister Palästinensern das Existenzrecht abspricht.
Sie meinen die Äußerung des ultrarechten Politikers Bezalel Smotrich, der im Frühjahr zum „Ausradieren“ eines palästinensischen Dorfes aufgerufen hat?
Ja. Es müssen jetzt alle darüber nachdenken, wie man diese jahrelange Spirale – die Hamas terrorisiert Israel und Israel schlägt zurück – durchbrechen kann. Israel glaubt, dass die Hamas ganz ausgelöscht werden kann. Wenn heute Wahlen im Westjordanland wären, bekäme die Hamas aber eine Mehrheit. Allein mit militärischen Mitteln wird man sie nicht los. Es wird niemand als Terrorist geboren, Terrorismus erwächst aus dem Gefühl, ein aussichtsloses Leben zu führen, keine Ausbildung, keinen Beruf, keine Perspektive zu haben. Es braucht eine politische Perspektive, und die sehe ich heute weniger als je zuvor.
Israel war auf den Angriff der Hamas nicht vorbereitet, aber hatte die Hamas damit gerechnet, dass Israel so hart zurückschlagen wird?
Ich glaube, dass die Hamas überrascht war, wie brutal und breitflächig sie ihre verheerenden Attacken durchziehen konnte. Die Hamas hat darauf gesetzt, die Hisbollah im Libanon und den Iran in den Krieg hineinzuziehen. Das war eine Fehlkalkulation. Ich hoffe sehr, dass das so bleibt.
Ganz anderes Thema: Sie haben einen Aufruf zur Unterstützung der Wissenschaftlerin Janka Oertel auf einem aussichtsreichen Listenplatz der Grünen für die Europawahl unterschrieben. Wählen Sie inzwischen die Grünen?
Ich bin CDU-Mitglied und wähle die CDU. Die Grünen verlieren mit Reinhard Bütikofer jetzt einen ausgesprochenen China-Experten im Europäischen Parlament. Er hat das internationale Recht und die Menschenrechte immer verteidigt. Er ist ein wortgewaltiger Mann, den ich schätze, obwohl ich nicht immer seiner Meinung bin. Sein Ausscheiden aus dem Europaparlament ist ein Verlust. Janka Oertel ist auch China-Expertin. Es ist wichtig, dass wir in unseren Parteien und Parlamenten Menschen mit Sachverstand und Erfahrung haben, auch wenn sie nicht seit ihrer Jugend in einer Partei aktiv sind, weil sie einen anderen Beruf erlernt haben. Das hilft unserer Demokratie.
Ist es zu befürchten, dass China Taiwan überfällt?
Man muss nur genau zuhören, was Präsident Xi Jinping gesagt hat – dass er sich Taiwan einverleiben will, notfalls mit militärischen Mitteln. China hat derzeit wirtschaftliche Probleme mit dem Wirtschaftswachstum, mit sehr hoher Jugendarbeitslosigkeit und einem Zusammenbruch des Immobilienmarktes. Joe Biden hat Xi als Diktator bezeichnet. Als Putin innenpolitisch unter Druck stand, hat er 2014 zum Nationalismus gegriffen und die Krim annektiert. Das hat ihn innenpolitisch gestärkt.
Sie waren UN-Botschafter zur Amtszeit von Donald Trump. Sollte er im nächsten Jahr die Präsidentschaftswahlen gewinnen, wäre die amerikanische Demokratie in Gefahr?
Er spricht von der „Ausmerzung von Ungeziefer“ und meint, dass die Mitarbeiter der jetzigen Administration entlassen werden müssten. Er sagt, er werde am ersten Tag als Diktator auftreten. 2020 hat er das Wahlergebnis nicht anerkannt. Deshalb muss man sich um die amerikanische Demokratie sorgen. Wir müssen uns auf den Fall der Fälle vorbereiten.
Wie?
Wir müssen etwa dafür gewappnet sein, dass die USA ihre Hilfen für die Ukraine reduzieren könnten. Deutschland muss aus dem Windschatten Amerikas kommen, mehr Verantwortung übernehmen und den Zusammenhalt Europas stärken. Ich kann nicht nachvollziehen, warum wir nicht auf Frankreichs Angebot eingehen, den französischen Nuklearschirm auch europäisch zu gestalten. Wir müssen mehr das vor vielen Jahren noch Undenkbare denken und uns entsprechend vorbereiten.
Etwa darauf, dass die USA aus der Nato austreten – womit Trump schon in seiner ersten Amtszeit gedroht hat?
Er würde nachschauen, wie die Nato-Staaten ihr Versprechen eingelöst haben, 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben aufzuwenden. Ist das nicht der Fall, ist zu befürchten, dass die USA das transatlantische Militärbündnis verlassen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sagt, Deutschland muss kriegstüchtig werden. Dieser Weg muss konsequent umgesetzt werden. Wir müssen noch sehr viel mehr tun, denn Deutschland wird noch sehr viel stärker unter Druck geraten als jetzt. Wir müssen den Menschen sagen, dass wir uns leider wieder zurückbewegen in eine Zeit, wie wir sie im Kalten Krieg hatten.
Was ist die Botschaft?
Damals hat Deutschland zwischen 3 und 5 Prozent des BIP für Verteidigung ausgegeben. In diese Richtung müssen wir gehen.
Im Februar kommt die Welt wieder zur Münchner Sicherheitskonferenz zusammen. Welche Themen werden dominieren, welches Signal streben Sie an?
Leider kehrt die klassische Sicherheitspolitik zurück nach München. Und auf der anderen Seite müssen wir den Sicherheitsbegriff erweitern. Wir werden Russlands Krieg weiter in den Mittelpunkt stellen. Natürlich setzen wir auch den Konflikt im Nahen Osten auf die Tagesordnung. Vertreter der Länder des globalen Südens kommen, weil wir über Klimawandel, Ernährungssicherheit, Gesundheit sprechen müssen. Cyberattacken und Künstliche Intelligenz und Desinformation sind ebenfalls Themen.
Ein Jugendtraum hat sich für Sie erfüllt: Sie sind Neusser Schützenkönig geworden. Nun tragen Sie viele Orden, dass Militärs neidisch werden könnten. Sind Sie mehr Schütze oder eher König?
Ich bin in erster Linie Neusser. Mit dem Neusser Schützenfest ist etwas gelungen, um das uns viele beneiden und das es nur an wenigen Orten auf dieser Welt gibt: eine Gemeinschaft, die sehr, sehr eng zusammenhält. Dort kommen alle Schichten der Bevölkerung zusammen, wir unterstützen viele Hilfsaktionen, etwa für die Ukraine. Es ist das friedlichste Fest, das man sich vorstellen kann – trotz der vielen Holzgewehre, ich betone: Holz.
Frauen haben in Ihrem Männerklub leider nicht die gleichen Rechte.
Mich freut, dass wir keine Nachwuchsprobleme haben. Junge Leute schätzen unser Gemeinschaftserlebnis. Junge Frauen wollen jetzt mitmachen. Dann gibt es wiederum Männer, die sagen: auf keinen Fall! Man kann nicht von heute auf morgen eine Revolution durchführen. Eine Kommission hat ihre Arbeit aufgenommen, es soll künftig eine graduelle Beteiligung von Frauen geben – sie sollen Mitglieder des Schützenvereins werden können. Ich hoffe, dass das bei der nächsten Hauptversammlung entsprechend angenommen wird. Auf Dauer wird sich entwickeln, dass auch Frauen beim Mitmarschieren dabei sein werden.
Wie fortschrittlich … also bleibt es im Neusser Schützenverein vorerst wie in der katholischen Kirche: An die Spitzen kommen immer nur Männer.
Beim Neusser Schützenfest ist sehr viel Bewegung, das sehe ich bei der katholischen Kirche nicht.
Also es wird eher eine Frau Schützenkönigin in Neuss als Päpstin in Rom?
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass meine Enkelin zu gegebener Zeit Schützenkönigin wird.