Der Kölner Juraprofessor Claus Kreß ist einer der international angesehensten Experten für Völkerstrafrecht.
Im Interview erklärt er die bahnbrechende Bedeutung des aktuellen Urteils gegen ein IS-Mitglied.
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP nimmt Kreß Licht und Schatten wahr.
Köln – Herr Professor Kreß, Sie sind diese Woche in New York vom UN-Sicherheitsrat als Berichterstatter geladen. Was wollte man von Ihnen hören?
Claus Kreß: Estland hat es sich als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat zur Aufgabe gemacht, die Ahndung von Völkerstraftaten des Assad-Regimes in Syrien endlich wieder auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats zu setzen, nachdem China und Russland über lange Zeit alles dafür getan haben, das zu verhindern. In einem besonderen Sitzungsformat, gegen das weder China noch Russland ein Veto einlegen konnten, wurde überlegt, wie der Sicherheitsrat die Strafverfolgung von Verbrechen des Assad-Regimes in den Ländern unterstützen kann, die das möchten.
Deutschland hat hier sogar eine Vorreiterrolle übernommen mit dem Urteil des Koblenzer Oberlandesgerichts gegen einen ehemaligen Geheimdienst-Mann des Assad-Regimes vom Februar 2021. Und just während meines Aufenthalts in New York erreichte uns am Dienstag die – überaus bemerkenswerte – Nachricht vom Völkermord-Urteil des Frankfurter Oberlandesgerichts gegen einen Angeklagten aus dem Irak.
Was ist für Sie das Bemerkenswerte?
Soweit ich sehe, hat das Gericht als erstes weltweit den Angriff der IS-Terrormiliz auf die Jesiden als Völkermord eingestuft. Zugleich war es der erste Schuldspruch wegen Völkermords nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch von 2002.
Die Verurteilung eines Irakers, der ein versklavtes fünf Jahre altes jesidisches Mädchen hatte verdursten lassen, dürfte eine ähnliche Signalwirkung wie das Koblenzer Urteil haben, über das ich in New York Auskunft geben sollte.
Was haben Sie dem Sicherheitsrat gesagt?
Das Koblenzer Gericht, das den Angeklagten wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt hat, hat die Grundidee des Völkerstrafgesetzbuchs fast in Reinform umgesetzt: Wenn ein internationales Tribunal für die Strafverfolgung ausfällt und eine Strafverfolgung im jeweiligen Land nicht möglich ist, dann springt ein nationales Gericht ein – treuhänderisch im Dienst der internationalen Gemeinschaft.
Zur Person
Claus Kreß, geb. 1966, ist Professor für deutsches und internationales Strafrecht und Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht der Universität zu Köln. Er ist einer der Mitautoren des Völkerstrafgesetzbuchs. 2019 wurde Kreß zum Ad-hoc-Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag berufen. (jf)
Auch das Koblenzer Urteil ist international ein Präzedenzfall: Zum ersten Mal hat ein Gericht festgestellt, dass das syrische Regime eine ursprünglich friedliche Protestbewegung systematisch und ausgedehnt mit Mord, willkürlicher Verhaftung und Folter überzogen hat.
Wie war die Reaktion im Sicherheitsrat?
Es kommt nicht gerade jeden Tag vor, dass die Arbeit deutscher Gerichte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dem Etikett „historisch“ versehen wird. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass die deutsche Strafjustiz in New York jemals eine so positive Aufmerksamkeit erfahren hat.
Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP?
Zum Völkerstrafrecht gibt es Licht und Schatten. Sehr zu begrüßen ist, dass die Koalitionäre die „Kapazitäten“ für die Anwendung des Völkerstrafgesetzbuchs verstärken wollen. Darauf muss man sie künftig auch festlegen. Denn der Aufwand für solche Verfahren ist für die Gerichte, für die Generalbundesanwaltschaft und für das Bundeskriminalamt immens hoch. Im Moment scheint nicht einmal genug Geld da zu sein, um ein grundlegendes Urteil des Bundesgerichtshofs ins Englische zu übersetzen. Das ist ausgesprochen misslich. Für größere Kapazitäten ist also gewiss Bedarf. Mehr Mut der Koalitionäre hätte ich in der Frage der Immunität ausländischer Staatsorgane gewünscht.
Inwiefern?
Die seit den Nürnberger Prozessen fest im Völkerrecht verankerte Überzeugung, dass Staatsorgane beim Verdacht einer Völkerstraftat vor ausländischen Strafgerichten keine sogenannte funktionale Immunität genießen, wird seit einiger Zeit von Staaten wie China und Russland massiv in Zweifel gezogen.
Womöglich eine zu detaillierte Angelegenheit – selbst in einem Koalitionsvertrag von mehr als 170 Seiten?
Auf den ersten Blick vielleicht ja. Allerdings ist das eine fundamentale Rechtsfrage von zugleich immenser praktischer Tragweite. Und ein einziger weiterer Satz hätte schon genügt.
Wie hätte der lauten sollen?
Man hätte lediglich schreiben müssen, dass die neue Bundesregierung die Verneinung des Immunitätsschutzes durch den Bundesgerichtshof vom Januar dieses Jahres auch international unterstützen wird. Bedenken Sie: Hätte der Bundesgerichtshof hier anders entschieden, wäre das jetzt weltweit gelobte Verfahren in Koblenz gescheitert, weil der Angeklagte, ein ehemaliger Geheimdienstler des Assad-Regimes, dann nicht hätte verurteilt werden dürfen. Die Sache hing also bis zum Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs am seidenen Faden. Und vor dem Hintergrund, dass die alte Bundesregierung hier gewackelt hat, wäre ein Signal der Standfestigkeit der neuen Koalition von umso größerer Bedeutung gewesen.
Wieso kam es nicht dazu?
Vielleicht bremste der bisherige Außenminister Heiko Maas, der die Unklarheit der alten Regierung zu vertreten hat. Sei’s drum, der Koalitionsvertrag schließt eine Wendung zum Besseren ja auch nicht aus. Ich setze hier große Hoffnung auf die beiden „kleinen“ Koalitionspartner und nicht zuletzt auf die künftige Außenministerin Annalena Baerbock, die in Sachen Völkerrecht wiederholt prinzipienfeste Positionen bezogen hat.
Sie sind seit diesem Jahr „Special adviser“ des Anklägers am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Was ist da Ihre Aufgabe?
Die jeweiligen Ankläger des Gerichtshofs haben seit langem einen kleinen Kreis externer Fachleute um sich versammelt, die ihnen etwa bei kniffligen Rechtsfragen beratend zur Seite stehen. Mein „Ressort“ ist erst vom neuen Ankläger, dem Briten Karim Khan eingeführt worden. Es geht dabei um die bis heute international heftig umstrittene Zuständigkeit des Gerichts für das Verbrechen der staatlichen Aggression.
Eine erst seit 2018 wirksame erweiterte Befugnis des Gerichtshofs.
Das war eine bedeutsame Veränderung der völkerrechtlichen Landschaft. Politisch gefällt diese aber beileibe nicht allen, nicht zuletzt im „Westen“. Beklagenswerterweise erweckt sogar eine wichtige jüngere Stellungnahme der EU den Anschein, als gäbe es das Verbrechen der Aggression nicht. Es wird im Text schlicht nicht genannt.
Wie kommt das?
Vielleicht auf französisches Betreiben. Frankreich tut sich mit der Zuständigkeit des Gerichtshofs für das Verbrechen der Aggression sehr schwer.
Eine Aufgabe könnte darin bestehen, Wege aufzuzeigen, wie die internationale Gemeinschaft beharrlich signalisieren kann: Das Verbrechen der Aggression gehört jetzt ins Portfolio des Gerichtshofs in Den Haag. „Change the mindset“ – ein Umdenken herbeiführen. Darum geht es zunächst einmal. Im Übrigen gibt es zu den schwierigen Rechtsfragen des Verbrechens der Aggression naturgemäß noch keine Rechtsprechung des Gerichthofs, noch kein konkretes Verfahren und damit auch noch keine Erfahrung. Aus geschriebenem Recht muss erst noch angewandtes Recht werden. Das ist ein wenig wie Spuren in den Neuschnee zu bahnen. Der erste, dem das zukäme, wäre der Ankläger selbst, auch wenn es natürlich am besten wäre, dass sich die Notwendigkeit von Ermittlungen gar nicht ergäbe.