Trotz fachlicher Bedenken des Gesundheitsministeriums hob die Bundesregierung im August 2020 die Reisewarnungen auf. Einer von mehreren Patzern.
Corona-ProtokolleKrisenstab der Bundesregierung bevorzugte Türkei - Seehofer pochte auf Ausnahme
Die Bundesregierung hat während des ersten Covid-19-Pandemiejahres monatelang eine Ausnahmeregelung für Reisen in die Türkei genehmigt, obwohl den Beteiligten Hinweise auf Mängel für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung vorlagen. Das legt eine Recherche von NDR, WDR und SZ nahe. Im Juli 2020 hatte die Türkei massiv bei der Bundesregierung dafür geworben, die Reisewarnung für vier touristische Gebiete aufzuheben. Unterstützung fand sie bei Innenminister Horst Seehofer (CSU) und im Kanzleramt von Angela Merkel (CDU). Dies geht aus Protokollen des gemeinsamen Corona-Krisenstabs von Innenministerium und Gesundheitsministerium hervor. Diese Protokolle wurden ursprünglich als „Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft.
Lange waren die Dokumente unter Verschluss. Das Onlineportal Frag-den-Staat verklagte die Regierung vor dem Verwaltungsgericht Berlin und bekam im Juli 2023 Recht. Nachdem Zwangsvollstreckungsmaßnahmen drohten, erklärte sich das Innenministerium im März 2024 bereit, die Protokolle herauszugeben. Nun werfen Recherchen von NDR, WDR und SZ Fragen zur Türkei-Regelung und weiteren fragwürdigen Entscheidungen auf. Es geht unter anderem auch um den verschwenderischen Einkauf von Desinfektionsmitteln.
Erhöhte Infektionen nach Aufheben der Reisewarnungen
Am 26. Februar 2020 fand die erste Sitzung des Corona-Krisenstabs statt. Ziel war laut Innenminister Seehofer „der Schutz der Bevölkerung“ und „Infektionsketten nach Deutschland einzudämmen.“ Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte, „das oberste Interesse gilt dabei dem Gesundheitsschutz vor kommerziellen Interessen“.
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Im Juli 2020 warb die Türkei massiv für eine Aufhebung der Reisewarnung. Laut Protokoll vom 7. Juli 2020 stand Seehofer dem „grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber“. Das Gesundheitsministerium warnte vor „Unsicherheiten“ und „geringen Testkapazitäten“ in der Türkei. Das Auswärtige Amt fürchtete einen „Domino-Effekt“. Am 14. Juli 2020 hieß es, die Lösung werde „auf Fachebene weiterhin zurückhaltend betrachtet“, doch am 9. November wurden die Reisewarnungen aufgehoben.
Nach der Aufhebung der Reisewarnung Anfang August 2020 fanden sich in den Lagebildern des Krisenstabs Hinweise auf Corona-Einschleppungen aus der Türkei. Fälle wurden unter anderem aus Offenbach, dem Landkreis Ludwigslust-Parchim, Duisburg und Berlin gemeldet. Im Oktober 2020 wurde bekannt, dass die Türkei bei ihren Tests nur infizierte Personen mit Symptomen zählte, entgegen dem WHO-Standard. Die Ausnahmeregelung wurde am 9. November zurückgenommen.
Desinfektionsmittel en masse - Influencer für Warn-App-Kampagne
Der Bundesrechnungshof kritisierte Gesundheitsminister Spahn bereits im Mai 2020 für seinen Kaufrausch bei Corona-Masken. Neu ist: Auch Desinfektionsmittel wurde maßlos eingekauft. Am 12. Mai 2020 verzeichnen die Protokolle eine Bestellung von insgesamt etwa sechs Millionen Litern - mehr als zu diesem Zeitpunkt Lagerkapazitäten vorhanden waren. Bis September 2020 kaufte das Innenministerium 7,9 Millionen Liter Desinfektionsmittel für 50,2 Millionen Euro. Im Frühjahr 2022 wurden die restlichen 6,7 Millionen Liter für 725.000 Euro verkauft.
Im August 2020 stellte die Bundesregierung fest, dass Teile der Bevölkerung starkes Misstrauen gegenüber klassischen Medien hegen. Influencer sollten helfen, etwa Verschwörungstheoretiker zu erreichen. Für die „Corona-Warn-App-Kampagne“ wurden 32 Personen mit hoher Reichweite in den sozialen Medien mit insgesamt etwa 489.000 Euro vergütet. Unter ihnen könnten auch Influencer wie Fynn Kliemann und Sarah Engels sein, jedoch ist unklar, ob sie tatsächlich von der Bundesregierung Geld erhielten und wenn ja, wofür. Sportler wie Ilkay Gündogan unterstützten die Kampagne ohne Honorar.
Die Protokolle decken den Zeitraum vom 26. Februar bis 15. Dezember 2020 ab und umfassen 49 Sitzungen des Krisenstabs, jedoch fehlt das Protokoll der achten Sitzung im März 2020. Diese Sitzung fällt in den Zeitraum der Debatte über ein umstrittenes Strategiepapier des Innenministeriums, das eine „Schockwirkung“ zur Veranschaulichung der Covid-19-Gefahren vorschlug. Für das Fehlen dieses Protokolls lieferte das Innenministerium keine Erklärung.