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Auch Stammwähler wandern abDie Misere der Grünen: Eine Partei ist völlig ratlos

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Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin des Auswärtigen, vor Beginn der Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt.

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin des Auswärtigen, vor Beginn der Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt. (Archivbild)

Der Regierungspartei fehlt mehr und mehr ein klares Profil. Bei den Landtagswahlen im Herbst könnte sich der Abwärtstrend noch verschärfen.

Bei den Grünen macht sich in diesen Tagen eine große Ratlosigkeit breit. „Ich find’s total schwer“, sagte eine Frau aus der Führungsriege nach dem Urnengang und meinte die Konsequenzen aus dem desaströsen Ergebnis bei der Europawahl, das sie mit 11,9 Prozent wieder auf das alte Niveau einer gehobenen Oppositionspartei katapultierte.

Die Grünen wissen spätestens jetzt, dass sie Druck von zwei Seiten bekommen: von jenen, denen sie, siehe Heizungsgesetz, zu grün sind – und von anderen, denen sie nicht grün genug sind. Damit sind unter anderem einstige Stammwähler gemeint, die entweder ins Lager der Nichtwähler oder zu Volt abgewandert sind. Blickt man auf die vorangegangenen Wahlen, ist jedenfalls eines klar: Das Ergebnis war keine Eintagsfliege. Der Niedergang ist ein Trend.

Die Grünen in der Krise: Einst wollten sie zur Volkspartei werden

Als Annalena Baerbock noch Parteivorsitzende war, da sagte sie mal, man müsse nicht alle Positionen der Grünen teilen, um sie zu wählen. Mit ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck war sie sich in einem Punkt einig: Beide wollten die Grünen um das Thema Klimaschutz herum breit aufstellen – und dabei im Zweifel weniger scharfkantig. Sie sollten Volkspartei werden.

Die Ampelkoalition hat weitere Substanz gekostet. Der Klimaschutz ist durch das Heizungsgesetz und die teils schamlose Ausnutzung seiner Mängel in Verruf geraten. Die Co-Sprecherin der Grünen Jugend, Katharina Stolla, sagte eben erst, nicht zuletzt der Nachwuchs habe jetzt andere Sorgen, sprich: soziale.

In der Flüchtlingspolitik gibt es bloß noch wenige, die die Fahne der Humanität entschlossen hochhalten: Filiz Polat und Julian Pahlke aus der Bundestagsfraktion etwa – oder der Europaabgeordnete Erik Marquardt. Als Friedenspartei gelten die Grünen hingegen schon länger nicht mehr, sondern als diejenigen, die wie der einstige Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter immer noch mehr Panzer für die Ukraine fordern.

Vizekanzler Habeck muss unterdessen eher die Schwäche der Konjunktur erklären als den Umstand, dass Deutschland seine Klimaziele verfehlt; es rächt sich nun, dass beide Zuständigkeiten in seinem Ministerium versammelt sind. Von der Kindergrundsicherung hört man seit geraumer Zeit gar nichts mehr. Das grüne Prestigeprojekt steht vor dem Scheitern.

Die Grünen verlieren ihr Profil: Das Rockige ist kaum mehr Realität

Der Verlust eines klaren Profils spiegelt sich in den Formen. Kontroverse Debatten finden bei den Grünen überwiegend hinter verschlossenen Türen statt. Öffentlich wird jeder Redebeitrag der Spitzenleute mit stehenden Ovationen quittiert – wie zuletzt beim Kleinen Parteitag.

Auch sonst passen sich die Grünen in den Formen an. Wenn die Union im Bundestag mit einem Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg droht, dann drohen sie mit einem Untersuchungsausschuss zu Nord Stream 2 zurück. Das Rockige ist überwiegend Behauptung, bisweilen Inszenierung – aber kaum mehr gelebte Realität. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Union und FDP das Gegenteil glauben machen wollen – von AfD und BSW ganz zu schweigen.

Die Misere ist also erheblich. Wie weiter? Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert mehr Einfluss für Habeck. Dabei steht der nicht allein auf dem linken Flügel in dem Ruf, eigene Positionen allzu bereitwillig zu räumen, um in der Rolle des Versöhners zu bleiben, der die Botschaft verbreitet: So grün, wie ihr da draußen glaubt, sind wir gar nicht. Kretschmanns Wunschnachfolger Cem Özdemir spielt mit dem Gedanken, Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zurückzuholen. Dieser hatte die Grundsatztreue seiner Partei jahrelang getestet und war schließlich ausgetreten.

Die Grünen fallen in der Ampel derzeit auch sonst kaum durch Standfestigkeit auf. Während SPD und FDP im Haushaltsstreit rote Linien markieren, sagte Fraktionschefin Katharina Dröge: „Regieren heißt, Kompromisse zu machen.“ Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann betonte: „An uns liegt’s nicht.“ Und fügte nach einer Kunstpause hinzu: „Nicht immer.“ Das klang maximal defensiv. Verglichen mit Sozialdemokraten und Liberalen scheinen die Grünen vor einem Koalitionsbruch derzeit am meisten Angst zu haben. Sie haben sich an das eigene Mantra gefesselt. Es besagt mittlerweile seit Jahren: „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen.“ Rote Linien kennen die Grünen nicht mehr.

Zwar versprach Co-Parteichef Omid Nouripour nach der Europawahl eine grundsätzliche Analyse. Man werde „viele Steine umdrehen“, sagte er. Doch solche Töne waren nach der Schlappe bei der Bundestagswahl, die nicht zuletzt Baerbock als Kanzlerkandidatin zugeschrieben wurde, ebenfalls zu hören. Geschehen ist dann mit Rücksicht auf die Außenministerin Baerbock fast nichts. Überhaupt verstehen sich die Vorsitzenden als Unterstützer der Kabinettsmitglieder, nicht als deren Korrektiv.

Die nähere Zukunft verheißt jedenfalls wenig Gutes. Bei der Landtagswahl in Thüringen könnten die Grünen an der 5-Prozent-Hürde scheitern. In Brandenburg und Sachsen stehen die Prognosen auch nicht zum Besten. Danach stellt sich die Frage, ob sie für die Bundestagswahl im nächsten Jahr noch glaubwürdig eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten aufstellen können. Die Antwort ist klar. Sie lautet: Nein.