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Ein Jahr OppositionLetzte Chance für Friedrich Merz

Lesezeit 7 Minuten
Friedrich Merz, CDU Bundesvorsitzender, verfolgt die Debatte im Plenarsaal im Deutschen Bundestag.

Friedrich Merz ist seit einem Jahr Chef der Union.

Die Union ist seit einem Jahr in der Opposition. Partei- und Fraktionschef Merz muss die Erneuerung vorantreiben und gleichzeitig Überzeugungsarbeit leisten, dass er der Richtige dafür ist. Wie hat er die Union im Griff?

Friedrich Merz nimmt beide Hände zusammen, ballt sie fast wie Fäuste. Er steht vor den gefüllten Reihen des Bundestagsplenums. Der Kanzler, der schräg hinter ihm auf der Regierungsbank sitzt, blickt auf einen Stapel von Unterlagen. Der CDU-Chef lässt seine geballten Hände mit leichtem Schwung auf das Rednerpult fallen.

„Herr Bundeskanzler, ich kann es nicht anders sagen“, ruft er. Als ob er diese Kritik am liebsten gar nicht so drastisch formulieren würde, das Problem aber einfach zu groß für Zurückhaltung ist. „Das ist ein grober Wortbruch gegenüber dem Parlament und vor allem gegenüber der Bundeswehr“, wirft er Olaf Scholz vor. So steige der Verteidigungshaushalt nicht wie verabredet um mindestens 2 Prozent, sondern er sinke um fast 300 Millionen Euro, bemängelt Merz.

Bundeskanzler Scholz ist nach Attacken von Merz oft aufgebracht

Es sind Situationen wie diese in der Generaldebatte über den Bundeshaushalt, die dem Oppositionsführer liegen. Ja, die ihn anspornen. Und es sind Auftritte wie diese, mit denen er seiner Fraktion versichern will, dass er Opposition kann und der Richtige für den Chefposten ist. Hört man sich unter Unionsabgeordneten um, sind es sein rhetorisches Talent und sein politisches Gespür für die Schwachstellen der Ampel, die sie an ihrem Vorsitzenden schätzen.

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Die von SPD-Politikerin Christine Lambrecht geleitete Verteidigungspolitik ist eines der Einfallstore, das Merz immer wieder thematisiert. Der Applaus seiner Fraktion ist dann besonders laut, die Zwischenrufe in den Reihen von Grünen, SPD und FDP sind es ebenfalls. Auch Scholz ist nach Merz‘ Attacken oft aufgebracht und lässt sich aus der Reserve locken. Dann sitzt Merz in der ersten Fraktionsreihe und muss über manche Spitzen schmunzeln.

Union war im Herbst 2021 noch stark zerstritten

Viele in der Union sind froh, dass er der Fraktion wieder das Selbstbewusstsein zurückgegeben hat. Das sieht vor wenigen Monaten noch anders aus: In der Bundestagswahl 2021 sackt die Union auf 24,1 Prozent ab – ihr schlechtestes Ergebnis jemals im Bund. Dass die SPD stärkste Kraft wird und die CDU nach 16 Jahren Regierung in der Opposition landet, ist für sie ein Schock.

Die Union steht im Herbst 2021 vor einem Scherbenhaufen. CDU und CSU sind wegen der andauernden Sticheleien von CSU-Chef und Ministerpräsident Markus Söder gegen den damaligen Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet zerstritten. Die Partei steht inhaltslos und abgestraft da, als Friedrich Merz einige Monate nach der Wahl Partei- und Fraktionschef wird.

Parteikollege: Merz schafft es, die Fraktion zusammenzuhalten

Für die Konservativen, zu denen er gehört, ist seine Wahl ein Befreiungsschlag, weil sie den Mittekurs von Altkanzlerin Angela Merkel als einen Grund für das schlechte Abschneiden sehen. Die Liberalen hingegen sind nervös. Sozialflügel-Vizechef Dennis Radtke etwa warnt vor den Merz-„Ultras“. Trotz der Startschwierigkeiten kann Merz im Laufe des Jahres die Reihen fürs Erste im Großen und Ganzen schließen. Sogar die, die ihn über Jahre als Führungsfigur ablehnen, wollen heute kaum ein schlechtes Wort über ihn verlieren.

Er schaffe es, die Fraktion zusammenzuhalten, sagt einer. Und tatsächlich: Öffentlichen Streit gibt es kaum, auch nicht mit der CSU. Nicht ohne Grund stellt er sich jede Sitzungswoche mit CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt vor die Presse. Während unter seinem Vorgänger Ralph Brinkhaus noch viel mehr um einzelne Positionen gerungen wurde, greift der Fraktionsvorstand nun häufiger durch.

Um das Thema Migration gibt es viele Debatten

Als Erfolg werten die Abgeordneten, wie die Fraktion gemeinsam mit den Ländern das Bürgergeld – ein Prestigeprojekt der Ampel – geändert habe. In der Öffentlichkeit hätten Partei, Fraktion und die unionsgeführten Länder mit einer Stimme gesprochen, heißt es. Mit ihrer Blockade im Bundesrat konnte die Union unter anderem weitgehendere Sanktionen ab Tag eins durchsetzen und die Grenzen der Schonvermögen deutlich schrumpfen.

Führen von vorne – das gelingt Merz lange. In diesen Tagen dürfte ihm jedoch bewusst geworden sein, dass sein Führungsstil auf Dauer kein Selbstläufer ist – und dass die liberalen Kräfte nicht jeden Hardliner-Kurs mittragen werden. Besonders die Debatte um das Thema Migration legt Risse offen, angestoßen vom Chancenaufenthaltsrecht, das die Ampel in der letzten Novemberwoche in den Bundestag einbringt.

Das Gesetz soll gut integrierten Ausländerinnen und Ausländern, die schon mehrere Jahre ohne gesicherten Status in Deutschland leben, eine Perspektive bieten. Wer zum Stichtag 31. Oktober 2022 fünf Jahre im Land lebt und nicht straffällig geworden ist, soll 18 Monate Zeit bekommen, um die Voraussetzungen für einen langfristigen Aufenthalt zu erfüllen. Dazu gehören beispielsweise Deutschkenntnisse und die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts. Unionsinnenpolitiker kritisieren das Vorhaben seit Wochen als „völlig falsches Signal“, weil es Menschen belohne, die sich weigerten, auszureisen.

Gemeinsamer Entschließungsantrag scheitert an Enthaltungen

In der Fraktionssitzung kommt es daraufhin zu einer hitzigen Diskussion über Zuwanderung und das geplante Gesetz. Um die Situation zu entschärfen, entscheidet sich der Vorstand für einen gemeinsamen Entschließungsantrag, hinter dem sich alle Positionen versammeln können. Merz will höchstpersönlich mitformulieren – das Thema will er nicht aus der Hand geben. Doch der Versuch eines gemeinsamen Antrags scheitert. Der Vorstand um Merz weist kurzerhand an: Alle Abgeordneten sollen gegen das Gesetz stimmen.

20 Unionisten, darunter einige aus dem früheren Merkel-Lager, enthalten sich jedoch. Dazu gehören der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der frühere Kanzleramtschef Helge Braun und die Chefin der Frauenunion, Annette Widmann-Mauz. Es lässt sich als Warnzeichen deuten, dass Merz und der konservative Flügel es nicht zu weit treiben dürfen.

Merz empörte mit dem Begriff "Sozialtourismus"

Und es ist nicht das erste Mal, dass der liberale Flügel ein Störgefühl wegen der Linie des Chefs spürt. Besonders übel wird ihm der Vorwurf des „Sozialtourismus“ an ukrainische Flüchtlinge genommen, den er am nächsten Tag mit einer Entschuldigung wieder zurücknimmt. Damals steht die Frage im Raum, ob das ein Ausrutscher ist – oder ob er am rechten Rand fischen will.

Letzteres wäre möglich: Seit Merz den Chefposten innehat, muss der konservative Flügel der CDU einige Niederlagen hinnehmen, weil er sich mittiger als zuvor erwartet positioniert. Da ist etwa das Votum des Parteitages im September für die Frauenquote. Später zieht Merz die Zusage zu einer Veranstaltung der konservativen Agentur The Republic, an dem unter anderem Persönlichkeiten der Rechtsaußenszene teilnehmen, nach heftiger Kritik wieder zurück.

In der Fraktion sind sie sich sicher, dass er die Kanzlerkandidatur will. Hinter vorgehaltener Hand werden jedoch Zweifel geäußert, ob er dafür der Richtige ist. Vor allem, weil er des Öfteren Fingerspitzengefühl vermissen lasse. Zum Beispiel sorgt für Kritik, dass er zur Hochzeit von Finanzminister Christian Lindner mit seinem silbernen Privatflugzeug anreist.

Er selber kann das überhaupt nicht nachvollziehen: „Ich verbrauche mit diesem kleinen Flugzeug weniger Sprit als jeder Dienstwagen eines Mitgliedes der Bundesregierung. Und deswegen fliege ich.“ Er nutze sein Flugzeug vor allem für berufliche Zwecke. Es sei ein „alter Traum“ von ihm. Dass er jedoch ein gewisses öffentliches Bild nährt, scheint ihm nicht klar zu sein. Schon vor wenigen Jahren löst seine Einschätzung, er gehöre der „gehobenen Mittelschicht“ an, Kopfschütteln aus.

Umfrage: Merz bei Sympathie und Leistung hinter Scholz

Umfrageergebnisse geben den Zweiflern in der Fraktion recht: Zwar kommt die Union in mehreren Umfragen der renommierten Meinungsforschungsinstitute an die 30-Prozent-Marke heran, doch Merz kann sich bei einer Beurteilung nach Sympathie und Leistung nicht gegen Scholz durchsetzen. So schätzen die Teilnehmenden im jüngsten ZDF-„Politbarometer“ der Forschungsgruppe Wahlen Merz auf einer Skala von plus fünf bis minus fünf mit minus 0,4 ein, während Scholz auf bessere 0,4 kommt.

Die Frage der Kanzlerkandidatur spiele aktuell für ihn „überhaupt keine Rolle“, wie er öffentlich beteuert. „Ich möchte die Union stark machen, dass wir 2025 wieder in der Regierung sind.“ Alle anderen Entscheidungen würden zu dem Zeitpunkt getroffen, an dem sie getroffen werden müssten, weicht er aus. Trotzdem fragt man sich in der CDU, ob er das sehr konservative Bild, das noch viele noch von ihm haben, modernisieren kann.

Es ist das eine, als Oppositionsführer die Regierung zu treiben, und das andere, als Kanzlerkandidat Wahlen zu gewinnen. Zur Wahrheit gehört: Es wäre wohl seine letzte Chance. Friedrich Merz ist schon viele Jahre in der Wirtschaft tätig, als er versucht, wieder in die Politik einzusteigen. Zweimal scheitert er mit seiner Kandidatur für den Parteivorsitz. Seit letztem Jahr sitzt er wieder im Bundestag und wird im darauffolgenden Januar CDU-Chef. Stehvermögen beweist er oft.

Doch bei der nächsten Bundestagswahl steht er kurz vor seinem 70. Geburtstag. Falls er von seiner Partei nicht zum Kanzlerkandidaten gemacht wird, würde er nach der nächsten Bundestagswahl wohl abtreten von der großen politischen Bühne. Sollte er es doch werden, seine Partei aber nicht zum Sieg führen, würde die Union ihn von der politischen Bühne schieben.