Sjewjerodonezk – Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her - und ausgerechnet an diesem Tag muss sich die ukrainische Armee im Osten des Landes in der Großstadt Sjewjerodonezk geschlagen geben.
„Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlagenen Stellungen auszuharren”, sagt Serhij Hajdaj, der Gouverneur des Gebiets Luhansk, dessen Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk ist. Die ukrainischen Verteidiger hätten das Kommando zum Rückzug erhalten.
Die schwer umkämpfte und völlig zerstörte Industriestadt war bis zuletzt einer der wenigen Teile des Gebiets, in dem russische Soldaten und prorussische Separatisten noch nicht vollständig die Kontrolle übernommen haben. Sollte Luhansk komplett fallen, hätte der Kreml eines seiner wichtigsten Kriegsziele erreicht.
Niederlage und Erfolg liegen eng beieinander an diesem Tag für die Ukraine. Erst wenige Stunden zuvor hatte die ehemalige Sowjetrepublik auf dem EU-Gipfel in Brüssel den Status eines Beitrittskandidaten zugesprochen bekommen. Im einheitlichen ukrainischen Nachrichtenprogramm wird der Rückzug aus Sjewjerodonezk dann erst einmal auch nur kurz erwähnt - deutlich mehr Raum nimmt am Freitag die frisch gewonnene EU-Perspektive ein.
Ukraine kein „Puffer” mehr
Am linken oberen Rand des Fernsehbildes ist nun ein EU-Symbol mit dem Schriftzug „Die Ukraine gehört zu Europa” zu sehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj freut sich, dass sein Land nun kein „Puffer” oder „Polster” zwischen Ost und West mehr sei. Doch während man in der Hauptstadt Kiew Optimismus zur Schau trägt, wird die Lage im Osten immer ernster.
Schon seit Wochen konzentriert sich Russlands Armee auf Angriffe im Donbass. Vor knapp zwei Wochen hieß es von ukrainischer Seite, landesweit fielen täglich bis zu 100 Soldaten aus den eigenen Reihen. Kämpfe man nun in Sjewjerodonezk weiter, steige diese Zahl massiv, sagt der Gouverneur. Fast alle Häuser dort, etwa 90 Prozent, seien zerstört. Von einst rund 100.000 Einwohnern sollen nur noch 7000 bis 8000 übrig sein.
Die Stadt machte auch deshalb immer wieder Schlagzeilen, weil offenbar weiter Hunderte Zivilisten in der zum Luftschutzbunker umfunktionierten Chemiefabrik Azot ausharrten. Was aus ihnen wird, ist unklar. Auch in der Nachbarstadt Lyssytschansk auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Siwerskyj Donez sieht es aus ukrainischer Sicht düster aus: Russische Truppen sind bereits an den Stadtrand vorgedrungen. Mehrere umliegende Siedlungen sind erobert.
Kurz vor dem Überfall Ende Februar hatte Russlands Präsident Wladimir Putin das Separatistengebiet Luhansk unter großem internationalen Protest als unabhängige „Volksrepublik” anerkannt, ebenso wie das Nachbargebiet Donezk. Beide Regionen will Moskau offiziell von ukrainischen Nationalisten „befreien” - Beobachtern zufolge ein reiner Vorwand für den brutalen Angriffskrieg. In Donezk immerhin kontrollieren die Ukrainer noch rund 40 Prozent des Territoriums.
Immer wieder hat die Ukraine vor dem Hintergrund der militärischen Überlegenheit Russlands im Donbass weitere und schnellere Waffenlieferungen aus dem Westen gefordert. „Nur unser militärischer Sieg wird Russland überzeugen, ernsthafte Friedensverhandlungen aufzunehmen”, bekräftigt Außenminister Dmytro Kuleba auch am Freitag wieder in einem Interview der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera”.
Für Kiew ist klar: Alle besetzten Gebiete sollen zurückerobert werden, erst dann könne es Frieden geben. Moskau hingegen beharrt derzeit auf seinen maximalen Forderungen wie die Anerkennung von Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten sowie der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisches Staatsgebiet.
Ungeachtet der Niederlage in Sjewjerodonezk ist ein großangelegter Abzug aus umkämpften Gebieten ukrainischen Angaben zufolge nicht vorgesehen. Die Verluste seien hoch, gestand Gouverneur Hajdaj am Freitag ein. Aber einen Krieg ohne Verluste gebe es nicht. „Wenn wir uns überall zurückziehen, werden wir bald in den Karpaten kämpfen.”
© dpa-infocom, dpa:220624-99-781516/3 (dpa)