Soziologe Hartmut Rosa über die schwindende Kraft des bevorstehenden Fests, die Chance, die darin liegt und über die Potenziale der Kirche.
Interview mit Hartmut Rosa„Es erbost mich, wie leichtfertig Religion abgetan wird“
Herr Professor Rosa, was halten Sie als Soziologe von Weihnachten?
Hartmut Rosa: An Weihnachten ereignet sich etwas, was die 24/7-Gesellschaft gut gebrauchen kann: eine Unterbrechung der gewohnten Rhythmen. Weihnachten hält die Zeit an und gibt - auch ohne religiösen Überbau - Gelegenheit zur kollektiven Besinnung. Da ruht die „Jagd des Lebens“ einmal. Allerdings scheint selbst dieses Fest die Kraft zu verlieren, uns ein Stück aus unser irdischen Zeit herauszuheben und zu verbinden mit dem Grund unserer Existenz.
Warum ist das so?
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Alles, was sich mit Weihnachten verbindet, ist in die Krise geraten. Mit dem religiösen Gehalt können immer weniger Menschen etwas anfangen: Jedes Jahr die gleiche Botschaft, jedes Jahr „Friede auf Erden“, und doch kein Jahr ohne Krieg. Aber auch der säkulare Teil des Festes kriselt. Die Geschenke soll man nicht mehr verpacken, weil das unökologisch ist. Und überhaupt: Was soll man denn noch schenken, wenn eh alle schon von allem zu viel haben?
Mit Ihrem Namen verbindet sich die Theorie der „Resonanz“. Dass der Mensch auf einen Ruf antwortet, der an ihn ergeht, ist eigentlich ein sehr weihnachtlicher Gedanke, oder?
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Erfahrung, dass es uns Menschen um Anerkennung geht: Wir wollen geliebt werden. Wir wollen geachtet und wertgeschätzt sein für das, was wir tun. Aber es gibt bestimmte Dinge im Leben, die man schlecht in Anerkennungskategorien fassen kann, etwa die Liebe zur Musik oder zur Natur. Mit der Theorie der Resonanz habe ich versucht, unsere Beziehung zur Welt über das Zwischenmenschliche hinaus zu erweitern.
Auch nach oben, auf etwas Göttliches, Transzendentes hin?
Ich spreche von einer „vertikalen Achse“ der Resonanz. Damit meine ich nicht unmittelbar eine bestimmte Gottesvorstellung, sondern dass der Mensch eine Art Grundverhältnis zum Leben braucht: Stehe ich in einem schweigenden oder gar einem feindlichen Universum – oder gibt es „über mir“ eine irgendwie mit mir verbundene, womöglich sogar antwortende Wirklichkeit? Einer solchen Verbundenheit versuchen die Menschen, Ausdruck zu verleihen oder sie sogar herbeizuführen.
Auf welche Weise zum Beispiel?
Die Astrologie ist ein interessanter Fall. Viele Menschen lesen ja ihr Horoskop und sagen: „Ich glaub’s zwar nicht so richtig, aber man weiß ja nie…“ Wie kommt so etwas? Ich glaube, dahinter steckt die Sehnsucht nach etwas Umgreifendem, durch das ein innerer Zusammenhang mit meinem Schicksal oder meinem Charakter entsteht. „Sterne hoch die Kreise schlingen“ heißt es in einem Weihnachtsgedicht von Joseph von Eichendorff. Was auch zeigt: Es gibt da eine Brücke zur religiösen Sphäre.
„Jedem sein Aberglaube!“, könnte der Skeptiker oder Agnostiker jetzt einwenden.
Mit allenfalls halbem Recht. Man kann Resonanz nicht willkürlich bestimmen. Sie können nicht beschließen, „ich trete jetzt mit meiner Kaffeetasse in eine Resonanzbeziehung“ oder „ab morgen ist mein Handy mein Gott“. Es braucht vielmehr eine kulturelle Einbettung, eine von vielen geteilte Annahme, dass es da etwas gibt, was uns unbedingt etwas angeht. Das Christentum hat da nach wie vor recht gute Karten.
Warum?
Weil sich in unseren Breiten die christliche Idee von etwas unbedingt Wichtigem in Kirchengebäuden niedergeschlagen hat, in vertrauten Geschichten, Liedern, Riten und Bräuchen.
Dann dient die christliche Religion in unseren Breiten auch der säkularen Gesellschaft noch als Resonanzkörper?
Im Alten Testament wird erzählt, dass König Salomo bei seinem Regierungsantritt Gott um ein „hörendes Herz“ bat. Das finde ich hoch interessant. Entscheidend für die Regierungskunst des Herrschers ist die sensible Wahrnehmung. Das ist die Quintessenz dieser Geschichte. Wenn das stimmt, dann braucht auch die Demokratie, in der das Volk sich selbst regiert, ein hörendes Herz. Auch das versuche ich, mit der Resonanztheorie auszubuchstabieren: dass es zur Resonanzfähigkeit gehört, sich berühren, anrufen zu lassen. Auch von etwas, das wir nicht von vornherein durchschauen, kontrollieren, beherrschen, dem wir uns aber so öffnen, dass es die Kraft hat, uns zu verwandeln. Das liegt quer zu den eingeübten Mechanismen der Alltagsbewältigung.
Inwiefern?
Üblicherweise orientieren wir uns an einer Vielzahl kleiner und großer To-do-Listen, die uns ganz genau sagen, was wir zu tun und zu lassen haben. Das Leben heute ist somit gekennzeichnet von einer ständigen parametrischen Optimierung.
Was soll das denn sein?
Wir legen genau fest, was wir in welcher Zeit erreichen wollen, wo wir uns verbessern wollen, und natürlich kontrollieren wir das: die tägliche Schrittzahl ein bisschen erhöhen, die Zahl der Follower und Likes steigern, das Einkommen oder die Quadratmeterzahl der Wohnung vergrößern. All das sind definierte Parameter, an denen wir uns systematisch abarbeiten. Aber das schafft gerade kein hörendes Herz, sondern nur ständigen Frust, wenn wir unsere Ziele dann doch nicht so erreichen. Für ein gelingendes Leben – individuell und als Gesellschaft - brauchen wir aber ein hörendes Herz.
Die Frage war doch: Brauchen wir Religion?
Der Religion wohnt genau die Idee der Offenheit für den Ruf Gottes inne – eines Gottes, der dem Menschen gut will. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“, heißt es – wieder im Alten Testament – beim Propheten Jesaja. Noch weitergehend fasst es die zweite Strophe des von Paul Gerhardt gedichteten und von Johann Sebastian Bach vertonten Weihnachtslieds „Ich steh an deiner Krippen hier“: „Eh ich von deiner Hand gemacht / da hast du schon bei dir bedacht / wie du mein wolltest werden.“ Aus solchen Sätzen spricht ein Urvertrauen in die eigene Existenz und in die Welt oder das Leben als solche. Wenn ich das als Grundmotiv von Religion definiere, dann braucht unsere Gesellschaft ganz unbedingt die Religion. Und dann besorgt es mich, ja irgendwie erbost es mich auch, wie leichtfertig Religion heute abgetan wird: „Ach was, weg damit!“
Aber was ist das denn noch für eine Religion, die als sozialpsychologisches Sicherheitsnetz fungiert, in das man sich bei Bedarf fallen lassen kann? Müssten gläubige Menschen nicht sagen: Einen solchen Gott, den die Gesellschaft braucht, den braucht es nicht?
Die Reduzierung aufs Funktionale funktioniert tatsächlich nicht. Das ist wie abends beim Zubettgehen: Ich kann noch so sehr überzeugt sein, dass Schlaf jetzt gut für mich wäre – das lässt mich aber noch lange nicht einschlafen, genau genommen ist sogar das Gegenteil der Fall. Was wir im Hinblick auf die Bedeutung von Religion aber sehr wohl tun können, ist zu fragen: Mit welchem Bild von der Welt, in welcher Beziehung zur Welt gelingt menschliches Leben? Und möglicherweise gelingt es besser, wenn ich mit der Möglichkeit einer mir entgegenkommenden – göttlichen – Wirklichkeit rechne und bereit bin, mich ihr zu öffnen.
Wenn das nun so wäre – braucht es denn dann auch die Kirche?
Nicht unbedingt. Aber ich erinnere an das, was ich zur Resonanz gesagt habe: Es bedarf der Einübung in eine Haltung der Offenheit, die sogar verletzlich oder verwundbar macht. Was übrigens ein zentraler Inhalt des Weihnachtsfests ist: Das Jesuskind liegt „elend, nackt und bloß“ in einer „armen Krippe“, um noch einmal aus Weihnachtsliedern zu zitieren. Die Kirche hat hier aus ihrer Tradition einiges beizusteuern. Zumindest kann es helfen, sich ihres Reservoirs an Texten und Liedern, an Geschichten und Riten zu bedienen, um die erwähnte Haltung des hörenden Herzens einzuüben.
Aber setzt das nicht eine gewisse positive Gestimmtheit der Kirche gegenüber voraus, an der es angesichts der aktuellen Kirchenkrise weithin fehlt?
Richtig. Man kann eine Resonanzerfahrung nur haben, wenn man überzeugt ist, dass da wirklich etwas ist, dem man sich in gutem Glauben öffnen kann. Wenn nun aber die Kirche mit ihren Würdenträgern eher Misstrauen weckt und den Verdacht nährt, dass man besser vor ihr auf der Hut sein sollte, dann öffnet man sich gerade nicht, sondern schottet sich ab. Diese Tendenz trifft dann auch noch auf ein generell verbreitetes Grundmisstrauen in unserer Gesellschaft. Es gilt als unvernünftig und riskant, sich auf Resonanzbeziehungen einzulassen. „Sei vorsichtig gegenüber allem, was du nicht kennst! Traue nichts und niemandem!“, das sind heute die Maximen.
Und sie haben ja sogar eine gewisse Berechtigung: Wir haben in der Corona-Krise lernen müssen, dass wir nicht einmal mehr frei atmen können. Jedes Luftholen kann den Tod bringen. Jedes Ausatmen kann für andere tödlich sein. Und das setzt sich fort: „Hüte dich vor den Russen! Achtung vor den Chinesen! Vorsicht vor deinem Handy – es liefert dich und deine Daten aus!“ Gleichzeitig mindern all unsere Versuche, Kontrolle über unser Leben zu gewinnen, nicht etwa die Angst vor den Bedrohungen, sondern verstärken sie. Man kann das an Hausbesitzern zeigen: Je ausgeklügelter draußen die Alarmanlagen sind, desto mehr Angst haben die Bewohner drinnen.
Haben Sie eine Empfehlung für die Kirche, wie sie in solch einer Situation positiv ins Spiel kommen könnte? Oder geht diese Frage zu sehr in die Niederungen der Krisenberatung?
Niederungen? Das ist doch eine höchst steile Angelegenheit! Sauschwer, eine gute Antwort zu geben. Ich versuche es mal: Manchmal wünschte ich mir von Kirchenvertretern mehr Mut und mehr Zutrauen in das, was sie anzubieten haben.
Nämlich was?
Erfahrungsräume, Praktiken, die Resonanz denkbar und fühlbar machen. Die vielen Verfehlungen der Kirche stehen dem unbestreitbar im Weg. Ich meine damit keineswegs nur den sexuellen Missbrauch, sondern auch das Agieren der Kirche als politischer Machtapparat. Aber das Christentum geht nicht darin auf, was die Kirche an Schweinereien begangen und an Schuld auf sich geladen hat. Man darf es zumindest nicht gleichsetzen. Ich finde, auch die Menschen, die jetzt wegen der Skandale scharenweise die Kirche verlassen, müssen sich fragen: Worin besteht denn der Glaube? Doch nicht darin, dass man Pfarrer oder Bischöfe fälschlicherweise für die besseren Menschen gehalten hat. Mit der Aufarbeitung ihrer Schuldgeschichte würde die Kirche sich vielleicht sogar leichter tun, wenn sie sich auf den Schatz besinnen würde, der ihr anvertraut ist. Nach wie vor hat sie ein Riesenpotenzial, Resonanzbeziehungen möglich zu machen in der Welt.
Entschuldigung, aber ist das nicht ein bisschen viel Schönfärberei?
Keine Sorge! Ich füge sofort hinzu: Die Kirche hat auch ein Riesenpotenzial, Resonanzquellen zum Versiegen zu bringen. Und es gibt da einen spezifischen Kipppunkt.
Können Sie diesen Punkt angeben?
Es hat wieder mit der Beziehungsidee vom „hörenden Herzens“ zu tun. Die Chance der Kirche und ihrer Vertreter ist, dass sie Gott mit der Haltung gegenübertreten: „Eigentlich weiß ich nicht, wer du bist und was du sagst. Eigentlich höre ich dich auch nicht. Aber gerade da, wo ich dich nicht höre, stehe ich in einem Raum der Offenheit für dein Wort.“
Das ist etwas, was gute Theologen immer wieder formuliert haben.
Ja. Eine resonanzsensible Haltung, die es dann auch erlaubt, sich zu öffnen für den anderen Menschen, der als solcher ähnlich unverfügbar bleibt wie Gott. In dem Moment aber, in dem Kirchenleute daherkommen und behaupten, sie wüssten schon, was Gott sagt, da verschließen sie umstandslos und erbarmungslos sämtliche Resonanzquellen, da kappen sie nicht nur die Resonanzachse nach oben, in die Vertikale, sondern auch in die Horizontale. „Gott sagt …, und deshalb musst du …“ Nein! Niemand will sich sagen lassen, was er tun muss, weil ein anderer es von oben gehört zu haben glaubt.
Genau dazu hat die Institution Kirche die Menschen sehr lange und sehr wirkungsvoll zu zwingen versucht.
Und das war der entscheidende Fehler, der zu Machtmissbrauch aller Art geführt hat, den sexuellen Missbrauch eingeschlossen. Mutwillig hat sich die Kirche damit ihre eigenen Resonanzquellen abgegraben. Aber sie sind noch da – und sie gehören zum Ganzen der Kirche. Vielleicht kann sie ja neu nach ihnen bohren, und womöglich nimmt sie dazu sogar Hilfe von denen an, die ihr noch etwas zutrauen. Weihnachten wäre ein guter Anfang.
Hartmut Rosa, geb. 1965, ist Professor für Soziologie an der Universität Jena. Rosa ist auch Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. Zuletzt erschien von ihm: „Demokratie braucht Religion“, Verlag Kösel, 80 Seiten, 12 Euro.