Die juristische Aufarbeitung des Falls Ue. ist von exemplarischer Bedeutung, sagt der Präsident des Kölner Landgerichts, Roland Ketterle.
Er wirft der Kirche vor, im Gegensatz zum weltlichen Gericht nicht hingeschaut und die Opfer nicht gehört zu haben.
Ketterle erklärt auch, warum er die die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in kirchlicher Regie für falsch hält.
Herr Ketterle, gern hätten wir mit Richter Christoph Kaufmann über den Prozess und das Urteil gegen den Priester Hans Ue. gesprochen. Aber er wollte nicht. Warum nicht?Roland Ketterle: Richterinnen und Richter sprechen üblicherweise durch ihre Urteile. Die sollen also selbsterklärend sein. Außerdem wäre es nachteilig für künftige Verfahren, wenn Richter im Nachgang zu einem Urteil Einschätzungen oder persönliche Stellungnahmen abgäben. Das erhöht die Gefahr von Befangenheitsanträgen.
Worin sehen Sie als Präsident des Landgerichts denn die Bedeutung des Prozesses gegen Hans Ue.?
Der Missbrauchsskandal erschüttert die katholische Kirche in Deutschland nun schon seit mindestens zehn Jahren. Die Besonderheit dieses Verfahrens liegt zunächst darin, dass sich überhaupt einmal ein Priester für seine Taten vor Gericht verantworten musste. In vielen anderen Fällen waren die Tatvorwürfe verjährt oder die Beschuldigten schon tot. Hinzu kommt, dass im Prozess gegen Hans Ue. zum ersten Mal hohe kirchliche Würdenträger wie der jetzige Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, und der frühere Top-Jurist des Erzbistums, Günter Assenmacher, als Zeugen vernommen wurden. Das ist meines Wissens in der deutschen Justizgeschichte bislang einmalig.
Das sind formale Aspekte. Sehen Sie auch inhaltlich eine besondere Relevanz des Prozesses?
Dieses Verfahren hat beispielhaft zur Aufhellung der vielfach angeprangerten Missstände in der katholischen Kirche beigetragen – etwa des ständigen Verschiebens der Verantwortung für Täterschutz und Vertuschung. Nie wollte es in der Kirche einer gewesen sein. Und auf die Opfer wollte keiner hören. Hier hat die Strafkammer unter Vorsitz von Herrn Kaufmann den Opfern Stimme gegeben – auch über Vorgänge, die strafrechtlich bereits verjährt waren. Und das überdies in einem besonders schweren Fall. Man muss ja bedenken, dass wir es hier mit fortgesetztem Missbrauch über fast 40 Jahre hinweg zu tun hatten, ohne dass der Täter je gestoppt worden wäre. Im Prozess haben die Betroffenen Gelegenheit bekommen, Zeugnis von ihrem Martyrium abzulegen. Darunter waren auch Frauen, die sich bislang nicht getraut hatten und sich jetzt dazu ermutigt sahen, sich endlich zu offenbaren.
Woran lag das?
An der Verhandlungsführung der Kammer. Sie hat den Beteiligten Vertrauen in die Justiz als wirklich unabhängige, neutrale Instanz mit Aufklärungsauftrag und Aufklärungswillen vermittelt. Ein solches Vertrauen in eine kirchliche Untersuchung bestand offenbar nicht.
Sehen Sie hier Versäumnisse der kirchlichen Verantwortlichen?
Kapitalverbrechen wurden im Erzbistum Köln als Verfehlungen von „Brüdern im Nebel“ bagatellisiert. Dem ist die Kammer im Prozessverlauf aufs Deutlichste entgegengetreten. Zudem war es Aufgabe des Gerichts, Anhaltspunkten für weitere Straftaten nachzugehen. Die Erweiterung der Anklage zeigt schon den Aufklärungserfolg auch in dieser Hinsicht.
Die Justiz ist selbst Teil der Gesellschaft. Hat Sie im Umgang mit sexualisierter Gewalt dazugelernt?
Wir haben erkannt, dass wir unsere Kapazitäten erhöhen müssen, um der Zahl und Komplexität der Taten gerecht werden zu können. Vor allem aber haben wir uns von einem am Täter und seiner Tat orientierten Strafverfahren wegbewegt zu einer am Opfer orientierten Aufklärung.
Was bedeutet Opferorientierung?
Ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt ist, dass ihre Perspektive und auch ihre besonderen Bedürfnisse im Prozess stärker in den Blick kommen. Der Gesetzgeber hat dazu die Möglichkeiten der Nebenklage deutlich erleichtert, und wir können die Opfer viel stärker in der Rolle von Verfahrensbeteiligten sehen, nicht mehr bloß von Zeuginnen und Zeugen. Mit verschiedenen Angeboten erleichtern wir den Opfern die schwierige Situation einer Aussage über intimste Vorgänge.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Es gibt seit fünf Jahren das Instrument der unentgeltlichen psycho-sozialen Prozessbegleitung. Zudem erlaubt das sogenannte Adhäsionsverfahren, dass Opfer schon im Strafverfahren – sozusagen aus einer Hand – auch ihre Schmerzensgeldforderungen geltend machen und mit sogenannten Feststellungsanträgen dafür sorgen können, dass ihnen auch künftige Schäden ersetzt werden. Das Entscheidende aber ist: Die Opfer müssen Gehör finden. Und: Es gibt keinen Vertrauensvorschuss gegenüber Institutionen mit scheinbarer Autorität.
Institutionen wie die Kirche. Wie schauen Sie als Vertreter der weltlichen Justiz eigentlich darauf, dass die Kirche ein umfassendes eigenes Recht etabliert hat – bis hin zu eigenen Strafgesetzen und Sanktionen?
Die Kirchen haben sich eigene Rechtsordnungen gegeben, lange bevor es vergleichbare staatliche Strukturen gab. Beide Rechtskreise sind deutlich voneinander unterschieden, und unsere Verfassung erkennt den Kirchen für ihre Selbstorganisation eine weitgehende Autonomie zu. Diese findet ihre Grenze aber an dem für alle geltenden weltlichen Recht, insbesondere dem Strafrecht. Die Kirche steht nicht über dem Gesetz. Wie Sie richtig sagen, hat auch die Kirche ein eigenes Strafrecht mit der Exkommunikation oder – bei Geistlichen – der Entlassung aus dem Klerikerstand als schärfsten Sanktionen. Freiheitsstrafen sind im Kirchenrecht nicht vorgesehen. Sie zu verhängen, ist weltlichen Gerichten vorbehalten. Und das ist auch gut so.
Glauben Sie, dass ein Prozess wie der gegen den Priester Ue. Gerechtigkeit schafft?
Wir können die furchtbaren Geschehnisse der Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Aber wir können sie sühnen. Ich bin fest überzeugt, dass das Urteil gegen Hans Ue. zur Sühne und zur Genugtuung beigetragen hat – einmal in der Höhe der ausgeurteilten Strafe, dann aber vor allem auch durch das schon erwähnte Gehör für die Opfer. Zu erleben, dass ihr Wort von Wert ist und der Täter für seine Verbrechen bestraft wird, ist ganz sicher ein wesentliches Moment des gerechten Ausgleichs. So habe ich auch die beiden Nichten Ue.s und ein weiteres Opfer verstanden, die sich am Ende des Prozesses öffentlich geäußert haben. „Zufriedenheit“ mit dem Urteil wäre das falsche Wort. Es geht um viel mehr.
Nämlich worum?
Die Opfer haben sich ernst genommen gefühlt, und sie haben erlebt: Endlich hat ihnen jemand geglaubt, und das hatte Folgen. Nach Jahren und Jahrzehnten der Bagatellisierung, des Kleinredens und Wegsehens ist das eine ganz entscheidende Erfahrung. Und das ist zugleich auch das Schöne an unserer Gewaltenteilung: Dass die Institution, aus der ein Täter kommt, anhand ihrer eigenen Akten ermittelt, sodann den Richter stellt und gleich auch noch über die Entschädigung mitbestimmt – einen solchen „In-sich-Prozess“ gibt es in der staatlichen Ordnung nicht.
Was bedeutet das für die weitere Aufarbeitung?
Den Ruf nach dem Staat unterstütze ich ausdrücklich, zumal gerade der Prozess gegen Hans Ue. ja gezeigt hat, dass der Staat die Möglichkeit und die Kompetenz zu einer wirklich neutralen Aufklärung hat. Jeder Jura-Studierende kennt den Satz von der „Grundrechtssicherung durch Verfahrensgestaltung“. Wir können das.
Und die Kirche kann es nicht?
Nicht in gleichem Maße. Nehmen Sie das Regime der Opferentschädigung. Es liegt katholischerseits jetzt in der Hand einer „Unabhängigen Kommission“, die aber von den Bischöfen mitbestimmt wurde. Auch bei der Entschädigungssumme redet die Kirche ab einer bestimmten Höhe mit. Die Entscheidungen sind weder transparent noch einer neutralen Beurteilung von außen zugänglich. Im Grunde ist das ganze Verfahren eine „Blackbox“. Das alles halte ich für ausgesprochen nachteilig, nicht zuletzt weil damit die notwendige Weiterentwicklung eines so sensiblen Bereichs wie der Opferentschädigung nach Sexualstraftaten erschwert oder verlangsamt wird.
Roland Ketterle, geb. 1957, ist seit 2014 Präsident des Landgerichts Köln.