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Kommentar

Kommentar zur Koalition
Absurder Ampel-Streit spielt der AfD in die Hände

Ein Kommentar von
Lesezeit 4 Minuten
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf der Regierungsbank im Bundestag

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf der Regierungsbank im Bundestag

SPD, Grüne und FDP müssen dringend ihre Schnittmengen wiederfinden und Probleme wie Rezession und Migration mutig benennen.

Die Absurdität des jüngsten Zwists zwischen Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) ist eine doppelte. Nicht nur, dass alle Wir-haben-verstanden-Beteuerungen der Ampel-Parteien für eine bessere gemeinsame Politik direkt nach der Sommerpause hinfällig waren. Einen besseren Beleg für die eigene Unzuverlässigkeit und Unglaubwürdigkeit hätten die Koalitionäre denen nicht liefern können, die ihrerseits mit populistischen Attacken die Basis der Demokratie unterhöhlen: das Vertrauen der Menschen.

Absurd ist der jüngste Streit in der Ampel auch, weil zwei politische Ziele gegeneinander ausgespielt werden, die doch beide für die Zukunft des Landes entscheidend sind: wirtschaftlicher Erfolg und ein gedeihliches Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen.

Es wirkt widersinnig, wenn Hilfen für die Wirtschaft mit Verweis auf das Bemühen um Kinder blockiert werden

Wenig treibt die Bürgerinnen und Bürger derzeit mehr um als die Sorge, dass Deutschland als bislang erfolgreiche, prosperierende Wirtschaftsnation auf der Strecke bleibt. Die Menschen wissen, dass davon das Funktionieren des Staats, die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme, vor allem aber auch ihr persönliches Wohlergehen abhängen.

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Es wirkt deshalb komplett widersinnig, wenn Hilfen für die Wirtschaft nun ausgerechnet mit Verweis auf das Bemühen um die auskömmliche Förderung von Kindern blockiert werden sollen. Es braucht keine AfD-Parolen, um auf den Gedanken zu kommen, dass die Ampel hier über ihren inneren, ideologiebefrachteten Konflikten die sehr realen Sorgen und Ängste der Menschen aus dem Blick verliert.

Die Koalition muss sich auf ihre Schnittmengen besinnen

SPD-Chef Lars Klingbeil ist darüber zurecht „fassungslos“ – aber es wäre Sache seines Kanzlers, dass sich die von ihm geführte Bundesregierung endlich wieder in einer Verfassung präsentiert, in der sie zu vorzeigbaren Ergebnissen gelangen, sich auf die wirklich wichtigen Themen fokussieren und Orientierung bieten kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Koalitionspartner sich auf ihre anfangs so gern zelebrierten Gemeinsamkeiten und Schnittmengen besinnen, statt unentwegt auf Gegensätzlichem und Trennendem herumzureiten.

Carsten  Fiedler

Carsten Fiedler

Carsten Fiedler, Jahrgang 1969, ist Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Geschäftsführender Chefredakteur des Newsrooms der Kölner Stadt-Anzeiger Medien. Begonnen hat Fiedlers Karriere in der...

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Rhetorische Beschwichtigungen, die Lösungen für drängende Probleme auf der Zeitachse in Aussicht stellen, reichen für einen solchen Neustart mit Konzentration auf die drängenden Probleme nicht. Wenn die Energiepreise heute hoch sind, hilft niemandem der Hinweis, sie würden bei beschleunigtem Ausbau der Erneuerbaren schon irgendwann sinken. Im Gegenteil: Es entsteht der Eindruck, die Politik nähme die Realität nicht mehr wahr und die Ängste der Menschen nicht mehr ernst.

Die Erklärungen der Politiker zur Migration sind verdruckst oder fehlen gänzlich

Schon seit geraumer Zeit rangiert die Zuwanderung mit all ihren Folgen wieder ganz oben auf der Problemliste der Deutschen. Aber die Erklärungen der verantwortlichen Politiker, wie sie der Schwierigkeiten Herr werden wollen, die mit einer immer größeren Zahl von Migranten verbunden sind, sind verdruckst oder fehlen gänzlich.

Deutschland soll ein Land bleiben, das seinen humanitären Verpflichtungen gerecht wird und politisch Verfolgten Asyl gewährt. Aber klar ist auch, dass unser Land nicht alle aufnehmen kann, die – aus nachvollziehbaren Gründen – hier leben wollen. Begrenzung und Auswahl der Menschen, die zu uns kommen, sind legitime Interessen.

Klassische Einwanderungsländer haben immer darauf geschaut, wer ihnen von Nutzen ist

Klassische Einwanderungsländer haben immer darauf geschaut, wer ihnen von Nutzen ist. Der grassierende Fachkräftemangel in Deutschland, der schon jetzt die Produktivität der Wirtschaft schwächt, verlangt geradezu eine Öffnung für qualifizierte Menschen aus dem Ausland. Eine menschenfeindliche Kultur der Abschottung und Ausgrenzung, wie die AfD sie propagiert, schreckt auch jene ab, die wir dringend brauchen, und schadet so nicht nur dem Ansehen, sondern auch den Interessen unseres Landes.

Die mit der Zuwanderung zweifellos auch verbundenen Probleme mutig anzusprechen und praktikable politische Programme dafür zu entwickeln, dürfte das wirkungsvollste Gegenmittel gegen Ressentiments und den Zuspruch für eine extremistische Partei wie die AfD sein. Sie profitiert am meisten, wenn man ihr die Angstthemen tatenlos überlässt.

Für die Ampel ist es höchste Zeit, sich der Absage Lindners an eine Jamaika-Koalition 2017 zu erinnern: Es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren, sagte der FDP-Chef damals.

Gemessen daran, müssen SPD, Grüne und Liberale schleunigst besser regieren – sonst sind sie falsch am Platz und betreiben nur mehr das Geschäft derer, die mit ihrer Spaltung, Hetze und Zersetzung Gift für die Gesellschaft und schlecht für unser Land sind.