Gerhart Baum, Ex-Bundesinnenminister und „Urgestein“ der FDP, spricht über die größte Gefährdung der Demokratie in Deutschland seit 1949.
Interview mit Ex-BundesinnenministerGerhart Baum über die AfD: „Die Nazis sind wieder da“
Herr Baum, Sie haben in der „Zeit“ mit Blick auf die AfD von einem Déjà-vu Ihrer Generation gesprochen: Sie hätten heute dieselben Typen vor sich, die Sie als junger Mann in der Bundesrepublik der 50er bis 70er Jahre bekämpft haben. Helfen Sie mal den heute Jüngeren: Was für Typen meinen Sie?
Die Arroganten, Überheblichen mit ihrer deutschtümelnden , rassistischen Verachtung für alle, die nicht „von hier“ sind. Typen ohne jedes Verständnis für den Wert von Freiheit, von Grundrechten, ohne Sensibilität für Minderheiten. In meiner Jugend waren eine Menge dieser Leute aus der Nazi-Zeit noch da, die sie verdrängen und vergessen machen wollten. Allein dadurch, dass wir uns der Vergangenheit gestellt haben, konnten wir eine erfolgreiche Demokratie aufbauen. Wenn ich dann heute einen Björn Höcke sehe, einen Mann, der offen verfassungsfeindliche Ziele vertritt, weiß ich: Sie sind wieder da. Und wir müssen uns wieder wehren.
Wir zeigen Ihnen hier mal ein „Tiktok“-Posting des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah für die Europawahl, das sich an Jungs im Teenager-Alter richtet. Darin heißt es unter anderem: „Schau keine Pornos! Wähle nicht die Grünen! Geh raus an die frische Luft! Steh zu dir! Sei selbstbewusst! Guck geradeaus! Vor allem: Lass dir nicht einreden, dass du lieb, soft, schwach und links zu sein hast.“ Echte Männer sind rechts. Echte Männer haben Ideale. Echte Männer sind Patrioten.“
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Da kommt zum völkischen Wahn der Männlichkeitswahn der Nazis. Mich erinnert so etwas auf schockierende Weise an die Indoktrinierung, die ich selbst als „Pimpf“ unter den Nazis erlebt habe. Also auch da: Sie sind wieder da.
Macht Ihnen das Angst?
Es bringt mich auf. Unsere Demokratie ist in Gefahr – wie nie zuvor seit 1949. In mehr als 70 Jahren Geschichte der Bundesrepublik hatten wir nie eine rechtsradikale Partei in solcher Stärke und solcher Beständigkeit, die sich außerhalb des demokratischen Konsenses stellt. Die Unterstützung für eine Partei, die sich jetzt auf ihrem Europakonvent in Magdeburg hinter Höcke gestellt hat, ihren kommenden Vorsitzenden, darf man nicht mit dem Hinweis auf Protestwähler abtun und erst recht nicht als eine Spielart von schlechter Laune.
Das ist die Erklärung, die von Olaf Scholz immer wieder zu hören ist.
Und sie ist – mit Verlaub – leichtfertig. Ich erwarte vom Bundeskanzler endlich eine klare Ansage: Die „Zeitenwende“ findet nicht nur außenpolitisch statt. Wir sind auch im Inneren bedroht – von Feinden der Demokratie und unserer Verfassung.
„Sie halten die AfD insgesamt für verfassungsfeindlich?“
Sie müssen sich doch nur anhören, was AfD-Politiker fordern. Die Zerstörung der EU zum Beispiel. Unser Grundgesetz enthält in seiner Präambel die Verpflichtung, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wer Europa zerstören will, stellt sich schon damit außerhalb unserer Verfassungsordnung.
In Magdeburg auf dem AfD-Parteitag wurde die Auflösung aus dem Wahlprogramm gestrichen und EU stattdessen in ihrer gegenwärtigen Form für gescheitert erklärt. Sind Sie mit der EU in Ihrer gegenwärtigen Form zufrieden?
Natürlich nicht. Aber deshalb greife ich sie doch nicht im Kern an. Die Europäische Union ist ein Zukunftsprojekt, wie es auf der ganzen Welt kein zweites gibt. Welche Staatengemeinschaft sonst hat ein frei gewähltes Parlament? Europa muss nicht aufgelöst, sondern fortentwickelt werden. Und den listig weichgespülten Programmsätzen, die jetzt von einer Neuaufstellung reden, traue ich nicht. Die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel hält alle EU-Beamten für Schmarotzer, die sofort entlassen werden müssten. Da gibt es eine tiefe, fundamentale Aversion gegen Europa. Man muss darauf achten, was diese Leute sagen, nicht auf das, was sie in Wahlprogramme schreiben. Die haben sich jetzt getarnt, bürgerlich aufgehübscht. Im Übrigen interessiert es die AfD-Wähler so gut wie gar nicht, welche angeblichen Problemlösungen die Partei hat. Sie hat keine. Wohl aber führt sie noch weitere Frontalangriffe gegen unsere Verfassung, auf die bislang zu wenig geachtet wird.
Welche zum Beispiel?
Die AfD attackiert massiv die Freiheit der Kunst. In den Kommunalparlamenten will sie die Kulturetats an „völkische“ Zielsetzungen knüpfen. Sie steuert wieder auf Kategorien wie eine „entartete Kunst“ zu, die dem „gesunden Volksempfinden“ nicht zumutbar sei. Auch das verstößt gegen die Verfassung. Von der rassistischen Ausgrenzung von Menschen, die nicht unter einen völkischen Begriff des Staatsvolks fallen, ganz zu schweigen. Das ist ein fundamentaler Angriff auf den Wesenskern der Menschenwürde, sagt das Bundesverfassungsgericht – und wäre die Basis für ein Verbotsfahren, das ich aber nicht befürworte.
Warum nicht?
Weil es jetzt so aussähe, als wollten die anderen Parteien sich missliebiger Konkurrenz entledigen. Den Schritt hätte man – wenn überhaupt - früher gehen müssen.
Was sollte stattdessen geschehen?
Politisch Widerstand leisten, Farbe bekennen! Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist da klar. Der Kanzler, sicher ein überzeugter Demokrat, muss ebenfalls sagen, was Sache ist. Es ist allerdings auch fatal, den Höhenflug der AfD vor allem mit dem unglücklichen Operieren der Ampel-Koalition zu begründen. Das spielt eine Rolle, sicherlich, aber nicht die entscheidende.
Was ist dann die entscheidende Ursache für den Erfolg der AfD?
Die Wurzeln liegen tiefer: eine Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie, eine wachsende Systemverachtung, Geringschätzung demokratischer Werte und Spielregeln, eine Verachtung der Freiheit. Dann auch die tiefsitzende deutsche Affinität zum Nationalpopulismus. Da liegen die Ursachen in der deutschen Geschichte. Natürlich spielt zudem der Impuls mit, „wir wollen‘s denen in der Regierung und in den etablierten Parteien mal zeigen“. Aber da steckt mehr drin! Wer bereit ist, eine Partei von Neonazis zu wählen, der schwächt bewusst die Demokratie.
Wenn Sie Olaf Scholz eine zu beschwichtigende Sicht der Dinge vorwerfen – ist Ihre vielleicht zu alarmistisch, etwa wenn Sie AfD-Wähler pauschal als Neonazis bezeichnen?
Viele wenden sich aus Überzeugung bei der AfD zu. Das ist nicht bloßer Protest. Übrigens waren ja schon dauerhaft zehn Prozent Stimmenanteil besorgniserregend – zusammen mit einer Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte. Natürlich muss man über Strategien reden, um Menschen auch wieder zurückzuholen. Ich frage mich dann auch: Wo sind hier eigentlich die angesehenen, führenden Intellektuellen? Menschen mit moralischer Autorität. Die hätten jetzt auch eine Aufgabe: Partei nehmen – nicht für eine bestimmte politische Kraft, aber für die Demokratie.
Für die Abgrenzung nach Rechtsaußen war im Parteienspektrum immer die CDU/CSU zuständig. Von Friedrich Merz und seinen – mindestens – unscharfen Aussagen zur AfD haben Sie bislang gar nicht gesprochen.
Die Union und der Parteivorsitzende der CDU tragen zur Verunsicherung bei. Eine Partei, die – als einzige von Bedeutung - den demokratischen Konsens verlassen hat, darf man gedanklich nicht zurückholen, wie Merz das fatalerweise gemacht hat. Nicht einmal ansatzweise! Allerdings basiert der Erfolg der AfD auf der Verachtung für alle politischen Kräfte des demokratischen Spektrums. Diese Verachtung trifft auch die Union.
Was empfehlen Sie ihr?
Klare Abgrenzung und endlich ein schlüssiges politisches Konzept. Die Union weiß nicht, was sie will - und Merz irritiert.
Der Soziologe Klaus Hurrelmann hat den Aufstieg der AfD mit einer „posttraumatischen Belastungsstörung“ der Gesellschaft erklärt: Die Menschen seien wie traumatisiert von der Fülle und der Last der gegenwärtigen Krisen.
Das muss man im Auge haben, in der Tat. Die Menschen sind so dramatischen Veränderungen ausgesetzt, dass sie sich nicht mehr zurechtfinden. Der Ukraine-Krieg hat vieles davon erst sichtbar gemacht: die Veränderung der Weltordnung, den Kampf zweier Supermächte nicht nur um militärische oder wirtschaftliche, sondern insbesondere auch um technologische Dominanz. In einer solchen Situation brauchen die Menschen eine Führung, der sie vertrauen können, und nicht eine, die mit dauerndem Streit die Leute aufregt und ihre schon vorhandene Unsicherheit noch verstärkt.
Ihre Partei ist an dieser Regierung beteiligt.
Das ist ein Sonderproblem, ja (lacht). Die FDP ist Teil der Erfolge wie auch der Schwächen dieser Koalition.
Immer wieder wird auch ein wachsender Abstand der Politiker in der „Berliner Blase“ von den Sorgen und Problemen der Menschen als Grund für den Erfolg der AfD genannt.
Auch da ist etwas dran. Es fehlt der Berliner Führungsriege an Empathie, an dem Wärmestrom, den die Menschen jetzt bräuchten. Die sind – angefangen bei meinem Parteivorsitzenden Christian Lindner – alle so rational und kühl. In der Sache ist das ja gar nicht schlecht. Aber es bräuchte jetzt Spitzenpolitiker, die den Menschen auch das Gefühl vermitteln: „Die verstehen uns. Bei denen finden wir uns wieder, sind gut aufgehoben.“
Die zunehmende Zahl von Migranten, die nach Deutschland kommen, liegt in den Problem-Rankings der Meinungsforscher inzwischen wieder weit oben. In Hintergrundrunden benennen Politiker das Problem sehr klar. Aber den öffentlichen Diskurs führen sie – wenn überhaupt – eher verdruckst.
Die „Flüchtlingsfrage“ ist ein extrem gefährlicher Brandbeschleuniger. Das wissen wir doch seit 2015. Also muss man den Menschen sagen: „Wir verstehen eure Sorgen. Wir haben sie nämlich auch. Wir versuchen, die Probleme in europäischer Abstimmung zu lösen. Aber das ist sehr schwierig.“ Übrigens sind auch Ausweisungen und Abschiebungen rechtlich und praktisch sehr schwierig. Deshalb ist es fatal, mit markigen Sprüchen auch noch unerfüllbare Erwartungen zu nähren. Wir müssen neue Wege gehen, aber tragfähige und keine populistischen.
Fehlt mit dem „Wärmestrom“ auch die politische Großerzählung: Was soll das alles, was wir gerade tun? Beispiel: Heizungsgesetz. Da ist es nie gelungen, das Vorhaben als Teil eines wichtigen und richtigen großen Ganzen zu kommunizieren, von dem die Menschen dann sagen könnten: Okay, manches tut weh, aber wir gehen mit.
Das „es tut weh“ müsste auch kommuniziert werden. Es darf nicht – wie in der Corona-Pandemie – der Eindruck entstehen, der Staat könne alles Schmerzhafte abpolstern, abfedern, abpuffern. Weil eine solche Politik am Ende unmöglich ist und somit die Enttäuschung erst produziert, die sie vermeiden will.
Mit 90 neigen manche zur Altersmilde. Sie nicht?
Ich neige zum Alterszorn. Aber um das auch klar zu sagen: Ich bin trotz aller Warnungen nicht ohne Hoffnung für unsere Demokratie. Wir sind stark. Wir müssen diese Stärke nur entwickeln. Es gibt die Menschen, die bereit sind, die Demokratie zu verteidigen. Wir müssen sie nur aufmerksam machen, dass der Punkt erreicht ist. Wir schaffen das. Aber wir müssen kämpfen.