In komplexen Fragen wie der Migration hilft es nicht weiter, lediglich eine gute Gesinnung zu haben und die Menschenrechte hochzuhalten.
Kommentar zur Ampel-KoalitionDer Anspruch moralischer Überlegenheit schadet dem Diskurs
Die Ampel kommt aus dem Streiten nicht heraus. Nach den Schockwellen des Konflikts um Robert Habecks Heizungsgesetz, der das Bündnis von SPD, Grünen und FDP im Frühsommer in seine bisher schwerste Krise geführt hatte, ist von den anschließenden Konsens-Beteuerungen wenig übriggeblieben. Unter dem Eindruck zunehmender Flüchtlingszahlen und bevorstehender wichtiger Landtagswahlen ist die Migrations- und Asylpolitik die nächste Zerreiß- und Bewährungsprobe für die Koalition.
Spannend daran ist, dass es sich in beiden Fällen um Fragen von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Gesellschaft handelt: Wie kann dem galoppierenden Klimawandel mit seinen katastrophalen Begleiterscheinungen Einhalt geboten werden? Wie kann Deutschland seinen humanitären Verpflichtungen gegenüber politisch Verfolgten gerecht werden und gleichzeitig die Zuwanderung auf ein politisch und sozial beherrschbares Maß begrenzen?
Grüne beanspruchen moralische Deutungshoheit
In den Debatten fällt auf, dass es fast immer die Grünen sind, die für ihre Politik eine moralische Deutungshoheit beanspruchen. An ihnen arbeitet sich nicht nur die Opposition ab, sondern sie zwingen auch die anderen Koalitionäre ein ums andere Mal, sich zu den Vorstellungen ihres Partners zu verhalten. Zugespitzt gesprochen: Die Ampel blinkt in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger Dauergrün.
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Das hat nicht nur mit dem Führungsstil des sich unsichtbar Machens von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu tun. Vielmehr ist den Grünen in den vergangenen Jahren jene Rolle zugewachsen, die einst – unter den Bedingungen des Drei-Parteien-Systems in der alten Bundesrepublik – der FDP zugekommen war: Sie entschied darüber, welche der beiden Volksparteien eine Regierungsmehrheit bilden konnte.
Der Mannheimer Politologe Peter Graf von Kielmannsegg macht für den Erfolg der Grünen eine doppelte Agenda aus: Wie keine andere Partei stünden sie für das „zum Menschheitsdrama gewordene Menschheitsthema“ der natürlichen Lebensgrundlagen und ihres Erhalts. Und zugleich seien sie politische Speerspitze einer „Bewegung, deren gesellschaftspolitische Ziele man kulturrevolutionär nennen“ dürfe, schreibt Kielmannsegg in der FAZ. Als Beispiele führt er die Politik der offenen Grenzen, eine Auflösung der tradierten Vorstellungen von Staatsangehörigkeit oder auch einen politisch gesteuerten Sprachwandel an. Indem politische Konflikte mit einem moralischen Vorzeichen versehen würden, verschafften sich Minderheiten in der Gesellschaft eine Position der Überlegenheit.
Ohnmachtsempfinden einer Mehrheit
Aus der Analyse des Politologen wird nicht zuletzt der Erfolg der AfD verständlich. Offenbar nutzt es wenig oder bewirkt sogar das Gegenteil, wenn sich die anderen Parteien, aber auch zivilgesellschaftliche Akteure mit dem Gestus einer – wiederum – moralischen Überlegenheit von der AfD absetzen. Unter der Hand führt das dazu, dass politische Ansichten schon deshalb als unschicklich oder gar schädlich gelten, wenn sie sich in eine (vermeintliche) Nähe zur AfD rücken lassen.
Das erschwert es, jene Menschen zu erreichen, die sich mit ihren Vorstellungen, ihren Sorgen und Ängsten von den Regierungsparteien nicht gesehen und verstanden fühlen. Das immer wieder geäußerte Ohnmachtsempfinden einer Mehrheit entspricht dem Gefühl, von Minderheiten dominiert zu werden, denen man selbst gar nicht angehört.
In komplexen Fragen wie der Migration hilft es nicht weiter, lediglich eine gute Gesinnung zu haben und die Menschenrechte hochzuhalten. Es muss auch den Belastungsgrenzen der Gesellschaft Rechnung getragen werden, der Fähigkeit zur Integration und der simplen Erkenntnis, dass Deutschland nicht alle aufnehmen kann, die ins Land kommen und hier leben wollen. Stattdessen die „Alternativlosigkeit“ einer Politik der offenen Grenzen zu behaupten, ist Realitätsverweigerung und damit indirekte Schützenhilfe für Extremisten.