Kiew – Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit dem Angriff auf die Ukraine nach Überzeugung von Bundeskanzler Olaf Scholz „furchtbare Schuld” auf sich geladen.
Über seine Reise in das angegriffene Land sagte Scholz in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit der Deutschen Presse-Agentur, es sei „etwas anderes, wenn man die Zerstörungen mit eigenen Augen sieht und selbst spürt, dass an einem Ort konkret Menschen gestorben sind, dass in den Autos, die dort zerstört herumstehen, Familien saßen, die fliehen wollten und brutal erschossen wurden”.
Der SPD-Politiker hatte am Donnerstag mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem rumänischen Staatschef Klaus Iohannis die Ukraine besucht. Dabei machte er unter anderem in Irpin Halt, wo nach dem Abzug russischer Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden worden waren.
Die Ukraine stellt sich auf einen länger andauernden Abwehrkrieg ein und peilt neue Verhandlungen mit Russland erst für Ende August an - nach ukrainischen Gegenangriffen. Die Situation für Zivilisten, die noch in der hart umkämpften Stadt Sjewjerodonezk ausharren, wird immer schwieriger. Es gibt kaum noch Wege aus der Stadt heraus.
Stoltenberg: Krieg könnte jahrelang dauern
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rechnet mit einem jahrelangen Krieg in der Ukraine. „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass er Jahre dauern könnte”, sagte er der „Bild am Sonntag”. Deshalb dürfe man nicht nachlassen in der Unterstützung der Ukraine gegen Russland.
Die Kosten dafür seien hoch, weil die Militärhilfe teuer sei und die Preise für Energie und Lebensmittel steigen. Aber das sei kein Vergleich zu dem Preis, den die Ukraine jeden Tag mit vielen Menschenleben zahle, sagte Stoltenberg. Wenn man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht entschieden entgegentrete, „dann bezahlen wir einen viel höheren Preis”.
Der Nato-Chef erwartete, dass die Ukraine mit Hilfe weiterer Waffenlieferungen aus dem Westen die russischen Truppen wieder aus dem Donbass vertreiben kann. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer wehren sich mutig gegen die russischen Invasoren”, sagte er der Zeitung. Das westliche Verteidigungsbündnis werde nicht selbst in die Kämpfe eingreifen. „Wir helfen dem Land, aber wir werden keine Nato-Soldaten in die Ukraine senden.” Man habe als klares Signal an Moskau mit 40.000 Soldaten unter Nato-Kommando die eigene Verteidigung gestärkt.
Friedensverhandlungen im August?
Erst Ende August, nach Gegenangriffen, will der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija die Friedensverhandlungen mit Moskau wieder aufnehmen, wie er in einem am Samstag erschienenen Interview mit dem Sender Voice of America sagte. Dann werde sein Land eine bessere Verhandlungsposition haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte am Samstag eine Frontregion im Süden der Ukraine.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte der Ukraine weitere Unterstützung mit Geld und Waffenlieferungen zu. Die Zivilisten in der schwer umkämpften ukrainischen Stadt Sjewjerodonezk sind nach einer Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums in einer schwierigen Situation. Aus der Stadt gebe es kaum noch Wege heraus. Unterdessen läuft in Europa eine Debatte darüber, wie schnell die Ukraine den Weg in die EU beschreiten kann. Die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin Katarina Barley (SPD) warnte vor zu viel Tempo.
Moskau: Fast zwei Millionen Ukrainer nach Russland gebracht
Aus den umkämpften Gebieten der Ukraine sind nach Angaben des Moskauer Militärs fast zwei Millionen Menschen nach Russland gebracht worden. Ein Vertreter des Verteidigungsministeriums nannte eine Gesamtzahl von 1,936 Millionen Menschen aus der Ukraine, darunter 307.000 Kinder. Allein am Samstag seien 29.730 Menschen nach Russland evakuiert worden, darunter 3500 Kinder, sagte Generaloberst Michail Misinzew.
Russische Raketen zerstören ukrainische Öltanks bei Dnipro
Russische Truppen haben am Samstag mit einem Raketenangriff Öltanks nahe der zentralukrainischen Stadt Dnipro zerstört. Die regionale Verwaltung berichtete von drei Raketen, die das Depot im Kreis Nowomokowsk trafen. „Es gibt ein starkes Feuer”, schrieb der Gouverneur des Gebiets Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, auf Telegram. Drei Menschen seien mit Verbrennungen in Krankenhäuser gekommen. Insgesamt seien elf Menschen verletzt worden.
Ukraine versenkt russisches Schiff
Russland hat durch Angriffe des ukrainischen Militärs erneut ein Schiff seiner Schwarzmeerflotte verloren. Der Schlepper „Wassili Bech” sei von ukrainischen Raketen beschädigt worden. „Später wurde bekannt, dass er gesunken ist”, sagte der Militärgouverneur von Odessa, Maxym Martschenko, in einer Videoansprache auf seinem Telegram-Kanal. Eine Bestätigung von russischer oder unabhängiger Seite gibt es nicht. Den ukrainischen Angaben nach wurde das Schiff, das erst 2017 in Dienst gestellt und mit einem Luftabwehrsystem des Typs „Tor” ausgestattet worden war, von Harpoon-Raketen getroffen. Die Schiffsabwehrraketen hatte Dänemark an die Ukraine geliefert.
Gefangengenommene US-Soldaten in russischen Medien
Zwei in der ukrainischen Armee kämpfende und von moskautreuen Truppen gefangen genommene US-Soldaten wurden in russischen Medien vorgeführt. Er habe der westlichen „Propaganda” von den „schlechten Russen” geglaubt und sei deswegen in den Krieg gezogen, rechtfertigte sich einer der Männer im Interview mit der kremlnahen Zeitung „Iswestija”, das das Blatt am Freitag auf seinem Telegram-Kanal zeigte. „In den westlichen Medien wird uns nicht gesagt, wie inkompetent und korrupt die ukrainische Armee ist”, sagte er.
Der zweite Gefangene trat beim Kremlsender RT auf. Er übermittelte nur einen Gruß an seine Mutter und sprach von der Hoffnung, nach Hause zurückkehren zu dürfen.
Debatte über EU-Perspektive für die Ukraine
Die Ukraine will möglichst schnell in die Europäische Union. Selenskyj betonte den Wert, den das auch für die EU hätte. „Unsere Annäherung an die Europäische Union ist nicht nur für uns positiv”, sagte er in seiner Videoansprache in Kiew. „Das ist der größte Beitrag zur Zukunft Europas seit vielen Jahren.”
Dagegen warnten die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin Barley und der CDU-Europapolitiker David McAllister vor zu viel Tempo und zu großen Erwartungen. „Überstürzte Beitritte darf es nicht geben. Wer einmal in der EU ist, kann nicht ausgeschlossen werden”, sagte Barley der „Neuen Osnabrücker Zeitung”. McAllister riet, die Ukraine zunächst näher an den Binnenmarkt heranzuführen - auf der Basis des bereits beschlossenen Assoziierungsabkommens. „Mitglied der Europäischen Union zu werden, erfordert viel Zeit, viel Kraft und viel Anstrengung”, sagte er dem Hörfunksender Bayern 2.
Bundeskanzler Scholz hatte sich am Freitag in einem auf Englisch geführten TV-Interview der Deutschen Presse-Agentur zuversichtlich gezeigt, dass die EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position zum Beitrittsgesuch der Ukraine finden werden. Die EU-Kommission hatte sich am Freitag dafür ausgesprochen, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union zu ernennen. Die Staats- und Regierungschefs wollen bereits bei einem Gipfeltreffen Ende kommender Woche über das Thema beraten.
Straßenkampf und eingekesselte Zivilisten
In der erbittert umkämpften ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk gibt es weiter Straßenkämpfe. Die Stadt und ihre Umgebung liege unter schwerem Artilleriefeuer, teilte der ukrainische Generalstab mit. Die ukrainischen Zivilisten in Schutzräumen des Chemiewerks Azot wollen nach Angaben der Gebietsführung nicht evakuiert werden. „Es gibt ständigen Kontakt zu ihnen. Man hat ihnen mehrfach eine Evakuierung angeboten, aber sie wollen nicht”, sagte der Gouverneur des ostukrainischen Gebietes Luhansk, Serhij Hajdaj, im Fernsehen. In dem Werk hätten 568 Zivilisten Schutz gesucht, darunter 38 Kinder.
Der Ort sei nicht mit dem Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol zu vergleichen, sagte Hajdaj. „Das ist keine unterirdische Stadt. Das sind einzelne Notunterkünfte, die getrennt, nicht untereinander verbunden sind.”
Die russische Seite hatte für Mittwoch die Schaffung eines humanitären Korridors angekündigt, durch den Zivilpersonen aus dem Chemiewerk in Sjewjerodonezk auf russisch kontrolliertes Gebiet fliehen sollten. Allerdings misstrauten Ukrainer den russischen Zusagen. Die Russen wiederum warfen ukrainischen Soldaten vor, Zivilisten mit Gewalt an der Flucht zu hindern.
Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums gibt es für Zivilisten angesichts zerstörter Brücken außer den von Russland und seinen Verbündeten einseitig ausgegebenen humanitären Korridoren kaum Wege, um aus der Stadt zu kommen. Andererseits habe Moskau schon in früheren Fällen in der Ukraine und auch in Syrien solche Korridore als Mittel missbraucht, um sich Vorteile auf dem Schlachtfeld zu verschaffen und Menschen zwangsweise umzusiedeln.
Johnson: ESC sollte in der Ukraine stattfinden
Der britische Premierminister Boris Johnson befürwortet eine Austragung des nächsten Eurovision Song Contest (ESC) in der Ukraine. „Tatsache ist, dass sie ihn gewonnen haben, und sie verdienen es, ihn zu haben”, sagte Johnson. Er selbst habe sich bei einem kurzfristigen Besuch am Freitag in Kiew davon überzeugt, dass die Stadt schon sehr viel belebter sei als noch vor einigen Wochen, sagte der konservative Politiker. „Kiew oder eine andere sichere ukrainische Stadt wäre ein fantastischer Austragungsort”, so Johnson und fügte hinzu: „Es ist noch ein Jahr bis dahin, ein Jahr! Das wird okay sein.”
Mitte Mai hatte die ukrainische Gruppe Kalush Orchestra mit dem Lied „Stefania” in Turin den 66. ESC gewonnen. Damit hatten die Ukrainer zum dritten Mal das Recht auf die Austragung im kommenden Jahr erlangt, schon 2005 und 2017 waren sie Gastgeber gewesen.
Doch wegen Sicherheitsbedenken hatte die Europäische Rundfunkunion (EBU) am Freitag verkündet, Gespräche mit der BBC in Großbritannien über die Austragung zu beginnen. Der Brite Sam Ryder hatte in Turin den zweiten Platz belegt.
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