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Lauterbach empfiehlt vierte Corona-Impfung auch unter 60

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Berlin – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wirbt in der Corona-Sommerwelle für zweite Auffrischimpfungen auf breiterer Front - nicht nur bei Älteren ab 60 oder 70 Jahren. Wolle man den Sommer ohne Risiko einer Erkrankung genießen, würde er es - „in Absprache natürlich mit dem Hausarzt” - auch Jüngeren empfehlen, sagte der SPD-Politiker dem „Spiegel”. Unter Experten stieß dies auf ein unterschiedliches Echo. Lauterbach rief zudem erneut zum Maskentragen in Innenräumen auf und betonte: „Wir werden einen sehr schweren Herbst haben”. Die Regierung bereite umfassende Maßnahmen dafür vor.

Lauterbach erläuterte, mit einer zweiten „Booster”-Impfung habe man „eine ganz andere Sicherheit”. Sie verringere das Infektionsrisiko für ein paar Monate deutlich. Auch das Risiko, an Long Covid zu erkranken, sei deutlich geringer, sagte er in dem „Spiegel”-Gespräch (Donnerstagabend) mit Blick auf länger anhaltende Beeinträchtigungen.

Der Minister verwies darauf, dass er schon seit längerem vor allem zu einer vierten Impfung ab 60 Jahren rät, „weil dann die Sterblichkeit deutlich reduziert werden kann.” EU-Fachbehörden hatten sich kürzlich ebenfalls für eine weitere Auffrischung ab 60 Jahren ausgesprochen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt einen zweiten Booster bislang nur für Über-70-Jährige und einige andere Risikogruppen.

Stiko-Chef Thomas Mertens wandte sich gegen breite Viertimpfungen auch für jüngere Menschen. Er kenne keine Daten, die einen solchen Ratschlag rechtfertigten, sagte er der „Welt am Sonntag” und fügte hinzu: „Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto "Viel hilft viel" auszusprechen”. Kritik kam auch von der mitregierenden FDP. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagt dem Portal „t-online”: „Herr Lauterbach tut meiner Meinung nach gut daran, der Stiko bei Impfempfehlungen nicht vorauszugreifen.”

Kritik von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung äußerte sich kritisch. „Wir orientieren uns bei der Frage der Impfempfehlung ganz klar an der Ständigen Impfkommission”, sagte Vizechef Stephan Hofmeister: „Daran sollte sich alle halten und nicht unnötig vorpreschen.”

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz nannte es nicht hilfreich, dass der Minister einer Stiko-Empfehlung vorgreife. Grundsätzlich sollte man vor weiteren Impfungen persönlichen ärztlichen Rat einholen, sagte Vorstand Eugen Brysch. Entscheidend sei nicht nur das Alter. „Vielmehr müssen Vorerkrankungen, individuelle Risiken und der Immunstatus in den Blick genommen werden.”

Lauterbach sagte, Impfentscheidungen seien immer eine Entscheidung zwischen Arzt und Betroffenen. Die Stiko „empfiehlt ja nur im Allgemeinen”. Er riet Menschen über 60 Jahre zudem erneut, nicht auf Impfstoffe zu warten, die an neuere Virusvarianten angepasst sind. Ein erster wird laut Ministerium voraussichtlich Anfang September erwartet, ein zweites Präparat wohl Ende September/Anfang Oktober. Eine zweite Auffrischimpfung mit der meist nötigen vierten Spritze haben laut RKI inzwischen knapp 6,2 Millionen Menschen oder 7,5 Prozent der Bevölkerung. Bei Über-60-Jährigen sind es 21,3 Prozent.

Kommunikation aufpassen

Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) sagte: „Es ist wichtig, die Auffrischungsimpfungen vorantreiben.” Dazu könne der neue Vorstoß Lauterbachs durchaus beitragen. Allerdings sollte dieser darauf achten, „dass er durch die Art seiner Kommunikation nicht die Menschen verunsichert und die Ärzteschaft verärgert.” Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: „Der Gesundheitsminister hat Recht - wir sollten jede Chance nutzen, den Immunstatus der Bevölkerung zu verbessern.” Man solle aber auch die Grundimmunisierung nicht vergessen. „Noch immer ist fast ein Viertel unserer Bevölkerung gar nicht geimpft.”

Lauterbach sagte angesichts weiter hoher Ansteckungszahlen, er rate jedem, in Innenräumen besonders bei schwacher Lüftung Maske zu tragen. Die Sieben-Tage-Inzidenz gab das Robert Koch-Institut (RKI) am Freitag mit 719,2 an - nach 720,4 gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen am Vortag und 699,5 vor einer Woche. Die Inzidenz liefert aber kein komplettes Bild - vor allem weil nicht alle Infizierten PCR-Tests machen, die in die Statistik eingehen. Lauterbach erläuterte mit Blick auf die Dunkelziffer, die tatsächliche Sieben-Tage-Inzidenz dürfte bei 1400 bis 1500 liegen. Das seien hohe Fallzahlen. „Durchseuchung wäre etwas ganz anderes.”

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich drückt bei den Vorbereitungen für die Zeit nach dem Sommer aufs Tempo. „Wichtig ist, dass wir uns rechtlich durch ein neues Infektionsschutzgesetz auf die Situation im Herbst vorbereiten”, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Länder und Kommunen müssten rechtssichere Schutzmaßnahmen ergreifen dürfen. „Ich hoffe, dass wir noch rechtzeitig sind.” Er verwies darauf, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen bereits etwa die Hälfte der Sommerferien vorüber sei. Die zum Frühjahr deutlich zurückgefahrenen Corona-Bestimmungen im Infektionsschutzgesetz laufen am 23. September aus. Die Regierung berät über Anschlussregelungen.

Das RKI sieht generell einen weiterhin hohen Infektionsdruck in allen Altersgruppen, wie es im Wochenbericht von Donnerstagabend hieß. Die Sieben-Tage-Inzidenz der gemeldeten Fälle blieb demnach im Vergleich zur vorherigen Berichtswoche weitgehend unverändert - „es zeichnet sich ein Plateau ab”, schrieb das Institut. Allerdings seien auch bei gleichbleibenden Fallzahlen weitere Anstiege schwerer Erkrankungen, von Hospitalisierungen und Todesfällen zu erwarten.

© dpa-infocom, dpa:220715-99-30958/5 (dpa)