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LoveparadeAcht Jahre danach kämpfen Hinterbliebene immer noch um Entschädigung

Lesezeit 6 Minuten

21 Menschen starben bei der Loveparade-Katastrophe.

  1. Ob Loveparade-Katastrophe, Germanwings-Absturz oder der Terror-Anschlag von Anis Amri: Die Opfer und deren Angehörige kämpfen jahrelang um Entschädigung
  2. Millionenklagen wie in den USA sind im personenbezogenen deutschen Schmerzensgeld- und Schadensrecht nicht vorgesehen.
  3. Was ist ein Menschenleben wert?

Köln – Sie fahren wieder hin. Heiligabend. Hin zu dem Tunnel in Duisburg, in dem ihr Sohn Eike bei der Massenpanik auf der Loveparade am 24. Juli 2010 starb. Zu Tode getrampelt in dem Nadelöhr nahe der Rampe hinauf zum Festgelände. Stefanie Mogendorf und ihr Mann Klaus-Peter werden 21 Kerzen an der Gedenkstelle für die Katastrophe aufstellen. Die 21 steht für das Alter ihres Sohnes, zugleich aber auch für die Zahl der Todesopfer.

„Heiligabend war bei uns immer ein ganz besonderer Tag“, erzählt der 62-jährige Bauingenieur. Nach der Bescherung kamen die Karten auf den Tisch. Doppelkopf mit seiner Frau und den beiden Söhnen, mitunter bis spät in die Nacht. „Aber nun fehlt uns der vierte Spieler.“ Eike ist nicht mehr. Gut acht Jahre nach der Tragödie sitzt das Ehepaar in seiner Küche in Belm nahe Osnabrück und schildert die damaligen Abläufe. Wie ihr Sohn mit Freunden kurz entschlossen zur Loveparade fuhr, obwohl er eigentlich kein Techno-Fan war. Wie nachts um ein Uhr Polizei und ein Seelsorger die traurige Nachricht überbrachten. 

Beide wirken gefasst, beinahe abgeklärt, als hätten sie die schlimmen Geschehnisse verarbeitet. Der Schein aber trügt: Ein großes Maß Selbstbeherrschung spielt mit, als sie die Ereignisse Revue passieren lassen. Mitunter muss vor allem Hans-Peter Mogendorf schlucken, wenn er von Eike spricht. Der Jüngere der beiden Söhne, der Geschichte studierte und noch zu Hause lebte, der gerne feiern ging, der Journalist werden wollte.

Angehörige sprechen von „Blutgeld“ des Landes NRW

5000 Euro hat die Axa-Versicherung des Veranstalters bisher an die Mogendorfs bezahlt, die Beerdigungskosten inklusive. Sogenanntes ererbtes Schmerzensgeld. „Wir erben den Schadensanspruch unseres toten Sohnes“, erläutert Mutter Stefanie, „das ist pervers.“ Zudem hat das Land NRW seinerzeit 20 000 Euro Soforthilfe ausgeschüttet. Ein Betrag, den die Mogendorfs erst mal nicht anrühren. In ihren Augen „ist es Blutgeld“, um ihren Zorn über die Schlampereien und Planungsfehler im Vorfeld der Loveparade ein Stück weit zu besänftigen. Sie selbst erhalten keine Entschädigungen – nicht für den Verlust ihres Sohnes, nicht für all den seelischen Schmerz, den beide nur durch viel Arbeit kompensierten. Nicht für den Therapeuten, der Hans-Peter Mogendorf half, wieder in die Spur zu finden.

Im Gegensatz zu den USA erkannte die hiesige Rechtsprechung bis zum vergangenen Jahr nur die materiellen Schäden der Opfer an. Und das auch nur im überschaubaren Rahmen. Millionenklagen wie in Übersee sind im personenbezogenen deutschen Schmerzensgeld- und Schadensrecht nicht vorgesehen. Meist bewegen sich die Entschädigungen bei fremdverschuldeten Unglücksfällen im niedrigen fünfstelligen Bereich, bei der Loveparade bot die Versicherung anfangs gar nur 2500 Euro für jedes Todesopfer an.

Gesetzesänderung, damit auch seelisches Leid berücksichtigt wird

Seit Juli 2017 können Verwandte, Lebenspartner, Eltern oder Kinder bei der „fremdverursachten Tötung eines ihnen nahestehenden Menschen“ eine Entschädigung für entstandenes seelisches Leid einfordern. Betroffene wie die Mogendorfs gehen allerdings leer aus. „Auch wenn der Gesetzgeber die Regeln zugunsten der Hinterbliebenen in Unglücksfällen reformiert hat, gilt dies nicht rückwirkend für die Angehörigen der Loveparade-Opfer“, erläutert Rainer Dietz, Anwalt der Mogendorfs, „das ist ein Skandal“. Der Strafverteidiger vertritt die Nebenklage der Eltern im laufenden Loveparade-Prozess. Ein Verfahren, in der die Klärung der Schuldfrage gegen die zehn Angeklagten aus der Duisburger Stadtverwaltung und des Veranstalters Lopavent mit jedem Prozesstag in weitere Ferne rückt.

Sein Mandant sitzt gefasst am Küchentisch und referiert über die Sicherheitsmängel seinerzeit in Duisburg. Klaus-Peter Mogendorf kennt sich aus, schließlich ist seine Firma häufig in die Planung von Großveranstaltungen involviert. „Das hätte nie funktionieren können“, betont der Ingenieur. Bei dem Loveparade-Prozess geht es ihm nicht ums Geld, dass man in späteren Zivilverfahren womöglich noch geltend machen könnte. „Kein Geld der Welt kann unseren Sohn zurückbringen“, wirft seine Frau ein. Die Trauer, die Fassungslosigkeit. „Das wird nie aufhören“, ergänzt sie. Dann wird es einige Sekunden still am Küchentisch. „Im Prozess geht es uns einfach nur um Gerechtigkeit, dass der ganze Fall aufgeklärt wird und die Schuldigen gefunden werden“, sagt die Mutter schließlich.

In den französischen Alpen steuerte Andreas Lubitz eine Germanwings-Maschine in ein Bergmassiv.

Gewiss, die Schuldigen: Wilhelm S. würde gerne den Mörder seiner Tochter Rabea, 16, zur Rede stellen. Aber der starb im März 2015. Andreas Lubitz, der Co-Pilot, steuerte eine mit 149 Insassen besetzte Germanwings-Maschine in ein Bergmassiv in den französischen Alpen nahe dem Ort Le Verne.

Rabeas Vater fährt jedes Jahr zur Absturzstelle, er will seiner älteren Tochter so nahe sein, wie es geht. Der Mutterkonzern Lufthansa hat S. und all den anderen Angehörigen zunächst 50 000 Euro Soforthilfe nebst 10 000 Euro als Hinterbliebenem zukommen lassen. Plus 25 000 Euro als ererbtes Schmerzensgeld. Eine überwiegend freiwillige Leistung. Denn auch die Angehörigen der Germanwings-Opfer kommen nicht in den Genuss der Gesetzesreform für Hinterbliebene.

Schadensersatz für Germanwingsabsturz soll in Essen verhandelt werden

Anwalt Elmar Giemulla, der neben S. weitere 39 Hinterbliebene vertritt, hat vor zwei Jahren mit Hilfe von US-Kollegen eine Flugschule in Arizona verklagt, die angehende Flugzeugführer der Lufthansa ausbildete, darunter auch den Todespiloten Lubitz. Schon dort hätte der psychisch labile Zustand des späteren mutmaßlichen Massenmörders auffallen müssen, heißt es in der Klage. Als Mindestanspruch führte Giemulla 75 000 Dollar an – das Limit nach oben ist offen. Die Bundesrichterin verwies das Verfahren zunächst nach Deutschland mit der Maßgabe zurück, hier nach US-Recht zu urteilen. Derzeit beschäftigt sich das Landgericht Essen mit der Angelegenheit.

Was ist ein Mensch wert? Eine Frage, die sich Opferanwalt Mohammed Ali Khubaib stets aufs Neue stellt, wenn er wieder mal gegen Versicherungen oder staatliche Entschädigungsstellen prozessieren muss. „Der Umgang mit den Geschädigten von fremdverschuldeten Unglücken oder Terroranschlägen gleicht in Deutschland noch immer einem Torso“, meint der Berliner Jurist. „Die Opfer werden gleich zweimal zum Opfer.“ Sein Mandant Paul M. streitet derzeit mit dem Bundesamt für Justiz. Es ist der Abend des 19. Dezember 2016, als der Islamist Anis Amri mit einem gekaperten Lkw in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz rast. Elf Menschen sterben, 55 Besucher ziehen sich teils schwere Verletzungen zu.

Der Berliner Breitscheidplatz nach dem Terroranschlag im Dezember 2016.

Paul M. steht mit Kollegen inmitten der Verkaufsbuden, als der Truck auf die Gruppe zufährt. Der 40-Tonner schleudert den Berliner zur Seite. Die Ärzte diagnostizieren bei ihm ein stumpfes Bauchtrauma mit inneren Blutungen nebst Leberriss. Eine Notoperation rettet dem Logistikingenieur das Leben. Allerdings erkennen die Mediziner zunächst nicht, dass sich der 33-jährige Angestellte zusätzlich auch noch einen komplizierten Bänderriss im rechten Knie zugezogen hat. Als Opfer einer terroristischen Straftat gewährt ihm das Bundesamt eine „Härteleistung“ von 9000 Euro. Fall abgeschlossen. Da die schwere Beinverletzung erst einige Wochen später entdeckt wurde, zweifelt der Sachbearbeiter trotz eingereichter Atteste daran, dass diese beim Attentat verursacht wurde.

„Es ist enttäuschend, dass erst von schneller und unkomplizierter Hilfe gesprochen wird, und dann wird einem indirekt vorgeworfen, man würde falsche Angaben machen.“ Drei Monate ist M. wegen der Bändergeschichte ausgefallen. Falls das Bundesamt sich endgültig weigert zu zahlen, will er vor Gericht ziehen.