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Merz, Scholz, Habeck, Weidel bei RTLDiese Faktoren entscheiden das erste „Quadrell “der Geschichte

Lesezeit 8 Minuten
Das erste Quadrell der deutschen TV-Geschichte: Friedrich Merz (CDU), Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und Alice Weidel AfD) treffen bei RTL aufeinander.

Das erste Quadrell der deutschen TV-Geschichte: Friedrich Merz (CDU), Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und Alice Weidel AfD) treffen bei RTL aufeinander.

Am Sonntag treffen Scholz, Merz, Habeck und Weidel im Quadrell aufeinander. Hilft das Format den unentschlossenen Wählern?

Sie sprachen nur über ein einziges Thema, immer und immer wieder. 1,90 Meter maß der eine, 1,60 der andere. Es ging nicht um die Wirtschaftskrise, nicht um Bildung, Jobs, Soziales oder wachsende Armut. Das Gespräch der Kandidaten kreiste allein um ein Sujet: die Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten.

Gleich siebenmal trafen die beiden Senatsbewerber für den US-Bundesstaat Illinois – der Republikaner Abraham Lincoln und der Demokrat Stephen A. Douglas – im Jahr 1858 vor Publikum und Zeitungsjournalisten aufeinander. Es waren die ersten medial ausgeschlachteten Politrededuelle der Moderne. Douglas gewann zwar die Senatswahl. Lincoln aber wurde landesweit als aufrichtiger Redekünstler („Honest Abe“) populär. Zwei Jahre später war er US-Präsident.

Mit wem wollen die Wähler am liebsten ein Bier trinken?

Es war die Geburtsstunde der Erkenntnis, dass im personalisierten Wahlkampf weniger das nackte Argument zählt, als die Antwort auf die Frage, mit welchem der Kandidaten die Wähler am liebsten ein Bier trinken würden. Und spätestens, seit das Radio (1948) und das Fernsehen (1956) einstiegen, galt das Wahlduell in den USA als zentrale Sternstunde der Demokratie, quasi als politischer Super Bowl.

Schwenk nach Deutschland, knapp 170 Jahre später: Zwei physiognomisch höchst unterschiedliche Bewerber? Ein alles beherrschendes Thema? Was in den Lincoln-Douglas-Debatten die Sklaverei war, war im ersten TV-Duell zwischen dem SPD-Kanzler Olaf Scholz und CDU-Chef Friedrich Merz bei ARD und ZDF die Migration.

Robert Habeck, Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, in der ZDF-Sendung „Klartext“. Bürgerinnen und Bürger haben in der Sendung die Gelegenheit den Kanzlerkandidaten ihre Fragen zu stellen. (Archivbild)

Robert Habeck, Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, in der ZDF-Sendung „Klartext“. Bürgerinnen und Bürger haben in der Sendung die Gelegenheit den Kanzlerkandidaten ihre Fragen zu stellen. (Archivbild)

Der Tabubruch im Bundestag, die Brüchigkeit der „Brandmauer“, die Angst vor „alimentierten Messermännern“ (AfD-Chefin Alice Weidel), die Anschläge von Magdeburg, Aschaffenburg und zuletzt München – es sind die Themen, die in diesem Wahlkampf alle anderen Zukunftsfragen überlagern.

Das erste Quadrell der deutschen Fernsehgeschichte

Das wird im ersten TV-Quadrell am Sonntag im Studio Berlin Adlershof kaum anders sein. Ein Hauptthema, zwei Moderatoren – und gleich vier Bewerber. An vielem mag Mangel herrschen in diesem Land – pünktliche Züge, stabiles WLAN, Zuversicht –, nicht aber an Kanzlerkandidaten: Scholz und Merz waren bei RTL zunächst als Duellanten eingeplant, dann aber witterte der Privatsender die Chance, ARD und ZDF ein Schnippchen zu schlagen und kurzfristig Robert Habeck (Grüne) und Alice Weidel (AfD) dazuzubitten. So kommt es nach dem Triell von 2021 – Armin Laschet (CDU), Annalena Baerbock (Grüne) und Scholz – also doch noch zum Quadrell.

Wir erinnern uns: Habeck hatte den Öffentlich-Rechtlichen ursprünglich einen Korb gegeben, weil er nicht mit Scholz und Merz, sondern einen Tag später mit Weidel zu einem Kanzlerduell zweiter Klasse antreten sollte. Er sagte ab. Am Ende ging es, munkelt man auch in Kreisen der ARD, auch darum, Weidel nicht die Gelegenheit zu bieten, sich auf Augenhöhe mit den Konkurrenten zu präsentieren. Immerhin: Im ZDF-Wahlforum „Klartext“ antworteten am Donnerstagabend alle vier auf Bürgerfragen, dasselbe ist für die ARD-Wahlarena am Montag geplant.

Ein kleiner Coup für RTL

Für RTL ist die Viererrunde dennoch ein kleiner Coup. Es sei „das Quadrell, das Deutschland sehen will“, tönt man keck. Bereits um 19 Uhr werden die sogenannten Kleinparteien zu Wort kommen: mit Sahra Wagenknecht (BSW), Christian Lindner (FDP) sowie Gregor Gysi (Die Linke).

Quadrell? Es ist ein Kunstunwort, das eigentlich gar nicht existiert. Vier Menschen sind ein Quartett, vier Kutschpferde sind eine Quadriga, ein viertöniges Musikintervall ist eine Quarte und ein Kontratanz mit vier Paaren ist eine Quadrille. Das Quadrell mischt Quartett und Duell. Zwei Stunden lang wollen die Moderatoren Günther Jauch und Pinar Atalay den Bewerbern auf den Zahn fühlen.

13,6 Millionen Wähler sind noch unentschlossen

Aber wie wahlentscheidend ist ein guter Auftritt wirklich? Tatsächlich haben sich gut 13,6 Millionen Wähler (23 Prozent) auch eine Woche vor der Wahl noch nicht entschieden. Der Komiker Torsten Sträter hat den Trend zur politischen Kurzentschlossenheit mal in den schönen ostwestfälischen Satz gekleidet: „Ich wähl den, der bei uns vorre Tür am Baum hängt.“

In Zeiten flatterhafter Parteisympathien in einem müden und gereizten Land geht es also um viel. Die Unterschiede des Quartetts in Stil- und Politikfragen sind gewaltig, das birgt die Chance auf ein lebendiges Gespräch.

Alice Weidel, Fraktions- und Parteivorsitzende der AfD, wird ein düster-apokalyptisches Bild Deutschlands zeichnen. (Archivbild)

Alice Weidel, Fraktions- und Parteivorsitzende der AfD, wird ein düster-apokalyptisches Bild Deutschlands zeichnen. (Archivbild)

Weidel wird ein düster-apokalyptisches Bild Deutschlands zeichnen, Merz sich bemühen, dem Dauervorwurf der Arroganz kein neues Futter zu liefern. Scholz wird, von Einsamkeit umweht, beharrlich auf seine Erfolge verweisen, und Habeck sich gegenüber dem Trio der schlechten Laune als „Normalo“ inszenieren, der sich schon dadurch abhebt, dass er die Menschensprache beherrscht.

„Inflation von ‚Kanzlerkandidaten‘“

Die Duelle und Quadrelle könnten „eine echte Hilfe für Unentschlossene sein“, sagt Marcus Maurer, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie seien wichtig, „weil sie den Zuschauern einen direkten, ungefilterten Eindruck von den Kandidaten vermitteln“. Forsa-Chef Manfred Güllner hingegen schränkt ihre Bedeutung ein: „Bei dieser Wahl hat die Inflation von ‚Kanzlerkandidaten‘ zur Entwertung dieses Begriffs geführt und dürfte insofern auch die Bedeutung der Diskussionen relativieren.“

Tatsächlich kommen immer mehr Wähler ohne TV-Duell zurecht: Gut 12 Millionen Menschen – Minusrekord für bundesweite Wahlen – verfolgten die ersten Runde zwischen Scholz und Merz. Das waren drei Millionen Zuschauer weniger als 2002 bei der Premiere zwischen Gerhard Schröder (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) – und sogar sechs Millionen weniger als 2005 (Schröder vs. Angela Merkel). Damals freilich spielte das Fernsehen noch eine größere Rolle. Youtube war knapp ein Jahr alt, und Twitter noch gar nicht gegründet.

Genützt hat die erste Runde wohl weder Scholz noch Merz: In den Umfragen seither bewegt sich: so gut wie nichts. Die SPD steht wie einbetoniert bei 16 Prozent, die CDU kreist um 30. Nicht nur Millionen Zuschauer, sondern auch hunderte Journalisten vor Ort werden dennoch jedes Zucken der Augenwinkel registrieren, jede schnippisch geschürzte Lippe.

Der Klassiker: „Richard Nixon vs. John F. Kennedy“

In Wahrheit aber darf man die optische Komponente nicht überschätzen. Seit dem Klassiker „Richard Nixon vs. John F. Kennedy“ hält sich die Legende, dass ein gelungener Duellauftritt Wahlen entscheiden kann. Damals, am 26. September 1960, sah ein nervöser, kränklicher Republikaner mit Bartschatten, abgemagert und blass direkt aus dem Krankenhaus kommend, im CBS-Studio in Chicago gegen den sonnengebräunten, vor Vitalität dampfenden Hoffnungsträger der Demokraten übel aus – und verlor knapp.

Die Medienwirkungsforschung kommt inzwischen zu dem Schluss, dass kleine Fauxpas‘ viel entscheidender sein können als visuelle Elemente. Wie 1976, als Gerald Ford in der Debatte gegen Jimmy Carter darauf beharrte, dass die Sowjetunion in Osteuropa nicht dominierend wirke. Oder wie 1992, als George Bush sen. desinteressiert auf seine Armbanduhr sah. Oder wie der lachende Armin Laschet während der Flutkatastrophe 2021.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l), steht neben Friedrich Merz, Unions Kanzlerkandidat und CDU Bundesvorsitzender, vor dem TV-Duell von ARD und ZDF. (Archivbild)

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l), steht neben Friedrich Merz, Unions Kanzlerkandidat und CDU Bundesvorsitzender, vor dem TV-Duell von ARD und ZDF. (Archivbild)

Aber kann man ein Gespräch überhaupt „gewinnen“? Ein Bonmot zur rechten Zeit kann eine Waffe sein. Freilich ist das bisherige Bonmot-Schaffen von Olaf Scholz recht übersichtlich.

Anders als bei Ronald Reagan, der 1984 als 73-Jähriger gegen den 56-jährigen Walter Mondale auf die Frage nach seinem Alter stichelte, er werde „die Jugend und Unerfahrenheit meines Gegners nicht politisch ausschlachten“. Ein Volltreffer, erinnert sich Mondale später. Er habe in diesem Moment geahnt, dass die Sache gelaufen ist.

„Wenn der Kanzler ein Problem damit hat...“

Und in Deutschland? Schon 1969 wünschte sich der damalige SPD-Vizekanzler Willy Brandt eine Fernsehdebatte nach US-Modell. Amtsinhaber Kurt Georg Kiesinger (CDU) war empört: „Es steht dem Kanzler der Bundesrepublik nicht gut an, sich auf ein Stühlchen zu setzen und zu warten, bis ihm das Wort erteilt wird.“

Noch 2002 (Schröder vs. Stoiber) fremdelte Deutschland heftig mit dem Format. Ein Show-Battle (Kanzler vs. Kandidat), inszeniert wie ein Boxkampf (Tyson vs. Holyfield)? „Fehlt nur noch, dass die besten Sätze anschließend in Zeitlupe wiederholt werden“, maulte damals Bernd Gäbler, Chef des Adolf-Grimme-Instituts. Die SPD forderte dann ein Sitzduell, damit Schröder (174 Zentimeter) und Stoiber (186 Zentimeter) auf Augenhöhe diskutieren konnten. Doch der SPD-Chef musste stehen. „Wenn der Kanzler ein Problem damit hat, stellen wir ihm gern ein Fußbänkchen zur Verfügung“, höhnte der damalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer.

Deutschland hat schon einige Kandidatenduelle erlebt

Rund 40 Kandidatenduelle und -trielle auf Bundes- und Landesebene hat Deutschland inzwischen erlebt. Und weiß längst, dass nicht Fakten, sondern Gefühle Wahlen entscheiden.

Das galt bei Merkel gegen Schröder 2005, als der siegesbesoffene Kanzler später am Wahlabend zu seinem eigenen Schaden in der „Elefantenrunde“ eskalierte. Und das galt auch 2013 bei Merkel gegen Steinbrück, als die Kanzlerin die schwarz-rot-goldene Schlandkette trug und kaum mehr sagte als: „Sie kennen mich, ich komme zurecht“.

„Wenn ich ‚King of Kotelett‘ bin!“

Heimlicher Duellsieger damals: der „Metzgerhund“ („Focus“) Stefan Raab, dessen Einsatz als (vierter!) Mitmoderator als Sakrileg der Quatschfraktion an der ehrwürdigen politischen Meinungsbildung empfunden wurde. Bis Raab die alte Garde mit erfrischendem Klartext sauber abkochte.

Der „größenwahnsinnige, durchgeknallte ADHS-Teenager“ („Spiegel Online“) brachte Frische in das streng durchritualisierte, sterile Format („Das ist doch keine Haltung zu sagen: Ich will nur gestalten, wenn ich ‚King of Kotelett‘ bin!“). 17,64 Millionen Menschen sahen zu. Und „Bild“ rief Erzfeind Raab prompt zum „Sieger“ aus.

Diesmal: kein Raab. Die Zeiten sind ernst. Vor neutralfarbener Kulisse werden Jauch und Atalay ab 20.15 Uhr ihr Werk verrichten. Ab 22.15 Uhr aber ist bei RTL dann alles wieder wie immer: Frauke Ludowig befragt in der Sendung „Wer war am besten?“ Prominente und „Experten“.

Vor drei Jahren, nach dem Triell, waren das unter anderem die Fitness-Influencerin Louisa Dellert und die „Let‘s Dance“-Jurorin Motsi Mabuse. Es möge sich also niemand wundern, wenn sich diesmal „Dschungelkönigin“ Lilly Becker anheischig macht, das Quadrell zu bilanzieren.