Köln/Luzern – In einer bewegenden Rede (Wortlaut hier) hat die Frankfurter Philosophin und Theologin Doris Reisinger ein fortdauerndes Versagen der katholischen Kirche im Missbrauchsskandal angeprangert.
„Die Missbrauchskrise hat kein Ende“, sagte die 39-Jährige aus Anlass ihrer Auszeichnung mit dem „Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche“ im schweizerischen Luzern. „Immer wieder habe ich in den vergangenen zwölf Jahren gedacht: Jetzt habe ich wirklich alles gesehen. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Aber es wird immer noch schlimmer. Es gibt noch so viel, was noch nicht einmal in der öffentlichen Diskussion über Missbrauch in der katholischen Kirche angekommen ist.“
Eigene Missbrauchserfahrung offen gelegt
Dazu zählte Reisinger, die 2014 eigene Missbrauchserfahrungen in der katholischen Gemeinschaft „Das Werk“ öffentlich machte, zum einen den „organisierten spirituellen Missbrauch in sektenähnlichen Gruppen“, in denen es auch sexuellen Missbrauch gebe „und oft noch nicht einmal den Versuch, Aufklärung auch nur zu simulieren“. Zum anderen sprach sie von einer „hohen Zahl von Schwangerschaften und Abtreibungen in Folge von sexuellem Missbrauch“. In den meisten Fällen hätten katholische Priester als Täter ihre Opfer zur Abtreibung genötigt.
Die öffentlich geführte Debatte habe „noch nicht einmal an der Oberfläche dessen gekratzt, was in der katholischen Kirche Frauen angetan wurde und wird“, so Reisinger weiter.
„Dreister, eiskalter Zynismus“
Der Kirchenleitung warf sie „dreisten, eiskalten Zynismus“ vor: Die Bischöfe relativierten und retraumatisierten weiter, während sie zugleich der Öffentlichkeit und dem Kirchenvolk erzählten, dass sich vieles gebessert habe und dass man jetzt intensiv Prävention betreibe und schonungslos aufklären müsse – was die Öffentlichkeit und „die sogenannten einfachen Gläubigen“ oft nur allzu gerne hörten und glaubten. Wenn es vereinzelt irgendwo anders laufe, sei das die Ausnahme.
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„Um es in einem Wort zu sagen: Diese sogenannte Missbrauchskrise ist ein einziger Clusterfuck: eine heillos verfahrene Situation aus massenhaft Unwissen, Intransparenz, Inkompetenz, Wunschdenken, PR, Skrupellosigkeit, Machtkonzentration, Machtverschleierung, Gaslighting, entsetzlichem Leiden und spirituellem Kitsch – und in alledem gibt es sehr wenige Rufer und Ruferinnen in der Wüste, deren Stimmen im Gewirr untergehen.“
Autorin Reisinger desillusioniert
Was die Möglichkeit echter Veränderung betrifft, zeigte sich Reisinger desillusioniert. Sie habe jegliches Vertrauen in und jegliche Erwartung an die katholische Kirche verloren. „Ich habe durch alles, was ich persönlich und an der Seite anderer Betroffener erlebt habe, was ich durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema und durch den Einblick in Akten gesehen habe, einfach eine Illusion verloren, an der so viele andere noch festhalten.“
Die „bittere Wahrheit“ sei: Eine Reform brauche ein Mindestmaß an funktionierender Struktur, eine Verfassung, eine Rechtsordnung, eine Grundlage, die die Reform tragen kann, ohne selbst reformbedürftig zu sein. Diese Grundlage gebe es in der katholischen Kirche nicht. Dass die Kirche es nicht geschafft habe, eine überkommende „feudale Ständeordnung“ rechtzeitig zu überwinden, „das wird ihr jetzt zum Verhängnis“.
Machtmissbrauch als Norm definiert
Missbrauch gebe es überall, räumte Reisinger ein. „Aber in den allermeisten Gesellschaften und Rechtssystemen ist Missbrauch von Macht heute eindeutig als eine Abweichung von der Norm definiert. In der römisch-katholischen Kirche dagegen kann es genaugenommen gar keinen Missbrauch geben, weil das, was wir vor dem Hintergrund unseres modernen Rechts- und Moralverständnisses als Missbrauch von Macht bezeichnen, nämlich die unbegrenzte und unkontrollierte Macht der Herrschenden über alle Lebensbereiche der Untergebenen, in der katholischen Kirche tendenziell die Norm der Machtausübung ist – und von der Kirche selbst nicht als Missbrauch verstanden wird.
Für die Betroffenen gelte: „Wer das überlebt hat, was wir überlebt haben, dem macht diese Kirche nichts mehr vor. Der oder die lässt sich von bischöflicher Rhetorik, lächelnden Papstbildern und kirchlichen PR-Texten nicht mehr beeindrucken. Wir wissen, was wir gesehen haben. Wir sehen, dass der Kaiser nackt ist, auch wenn andere noch seine schicken neuen Kleider loben.“