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Missbrauchsskandal„Diese Kirche ist nicht mehr gesellschaftsfähig“

Lesezeit 7 Minuten
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Doris Reisinger

Köln – Eine Diskussion auf der phil.cologne 2021 dreht sich um den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Die Theologin Doris Reisinger, die in ihrer Zeit als Ordensfrau selbst Opfer sexuellen Missbrauchs wurde, benennt das zentrale Problem der Kirche im Umgang mit der Macht.

Frau Reisinger, wie sehen Sie die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals im Erzbistum Köln?

Doris Reisinger: Das Erzbistum verhält sich gar nicht so ganz anders als die meisten Bistümer, die alle von sich behaupten, sie hätten „aufgearbeitet“. Köln steht auf den ersten Blick sogar ganz gut da, weil es zumindest ein Gutachten vorgelegt und ansatzweise personelle Konsequenzen gezogen hat – mit der Beurlaubung zweier Weihbischöfe und der Entpflichtung des früheren Offizials.

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Und auf den zweiten Blick?

Kirchliche Verantwortliche sprechen von Aufarbeitung, verstehen unter dem Begriff aber offenbar etwas anderes als die meisten anderen Menschen. Sie verwenden den Begriff auf ihre Weise.

Nämlich wie?

Juristisch enggeführt, mit dem erkennbaren Interesse, führende Persönlichkeiten aus dem Fokus öffentlicher Kritik zu nehmen. Und natürlich mit dem Anspruch, die Deutungs- und Verfahrenshoheit zu behalten. Das Ergebnis ist ein eklatantes Gefälle zwischen den verheerenden Befunden und der Selbstwahrnehmung der Kirchenführung, die sich entlastet sieht und anscheinend sogar gelobt werden möchte, weil sie so schön aufgearbeitet habe.

Zur Person

Doris Reisinger, geb. 1983, ist promovierte Theologin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich kath. Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist Mitglied der Forschungsgruppe Gender, Sex and Power der Notre Dame University, Indiana.

In ihrer Zeit als Angehörige der katholischen Ordensgemeinschaft „Das Werk“ wurde sie nach eigenen Angaben in den 2010er Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs. Gegen einen Geistlichen des „Werks“ erstattete sie Anzeige. Die weltliche Justiz verfolgte den Fall nicht. In einem weiteren Fall wurde der beschuldigte Priester, ebenfalls Angehöriger des „Werks“, vor dem höchsten Gericht des Vatikans freigesprochen.

Über ihre Erfahrungen und über die Strukturen von Machtmissbrauch und spirituellem Missbrauch in der Kirche hat Reisinger mehrere Bücher veröffentlicht. 2019 führte sie mit dem Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, ein vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahltes aufsehenerregendes Gespräch zu ihrem Fall und zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. (jf)

Das ist aber nicht nur in Köln so.

Das einzig wirklich Spezielle in Köln ist, dass es Kardinal Woelki weniger als anderen Bischöfen gelingt, in seiner Selbstdarstellung als unbescholtener Aufklärer glaubwürdig rüberzukommen.

Nun legt ihm das Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke aber ausdrücklich keine Pflichtverletzungen zur Last.

Das ist doch genau das Problem. Mit abgezirkelten juristischen Spitzfindigkeiten wird darüber hinweg geredet, dass Woelki zweifellos von Missbrauch gewusst und leitende Verantwortung in einer Zeit gehabt hat, in der schreckliche Dinge geschehen sind. Damit sollte er künftig an der Spitze eines Bistums untragbar sein. Aber genau das wird mit aller Macht bestritten.

Wie sollte Aufarbeitung dann verstanden werden?

Aufarbeitung, wie sie gemeinhin verstanden wird, geht erstens damit einher, dass Verantwortliche auch zur Verantwortung gezogen werden. Das bedeutet Amtsenthebungen oder Rücktritte. Zweitens bedeutet Aufarbeitung einen angemessenen Ausgleich des Schadens, den Betroffene erlitten haben. Und drittens bedeutet Aufarbeitung, dass strukturelle Ursachen aufgedeckt, verstanden und behoben werden. All das findet in der Kirche aber nicht oder nur unzureichend statt. Deshalb ist die kirchliche Rede von Aufarbeitung in weiten Teilen ein Täuschungsmanöver, eine Simulation mit dem Ziel, die öffentliche Meinung und vor allem die innerkirchliche Stimmung zu befrieden.

Diskussion: Die Kirche und der Missbrauch

Der Missbrauchsskandal ist für die katholische Kirche zu einer Existenzkrise geworden. In Köln haben der Umgang der Bistumsleitung mit Missbrauchsfällen und das Vorgehen von Kardinal Rainer Maria Woelki bei der Aufarbeitung zur schwersten Erschütterung des Erzbistums in seiner jüngeren Geschichte geführt.

Auf der phil.cologne diskutieren die Theologin Doris Reisinger, DuMont-Chefkorrespondent Joachim Frank, der Zeithistoriker Prof. Thomas Großbölting und der Sprecher des Erzbistums Köln, Oliver Schillings, über Macht und Machtmissbrauch.

Die Deutschlandfunk-Redakteurin und Kirchenexpertin Christiane Florin moderiert den Abend.

Mittwoch, 8. September, 18 Uhr, Comedia, Vondelstraße 4-8, 50677 Köln. Tickets über koeln.ticket (hier geht es zur Buchung).

Über strukturelle Ursachen von Missbrauch im Raum der Kirche ist viel geredet worden: die Sexualmoral, der Klerikalismus, die Sakralisierung des priesterlichen Standes und der Institution Kirche. Was ist aus Ihrer Sicht der entscheidende Punkt?

Das Hauptproblem ist, dass die Kirche Verantwortung immer nur von unten nach oben definiert: Der Pfarrer ist dem Bischof verantwortlich, der Bischof ist dem Papst verantwortlich, und der Papst hat dann nur noch Gott über sich. Niemand muss sich nach unten verantworten – vor den Gläubigen oder eben auch vor den Opfern sexuellen Missbrauchs. Sie sind auch im gerade reformierten kirchlichen Strafrecht immer noch nicht Subjekte des Verfahrens, etwa als Nebenkläger. Ebenso wenig haben die Gläubigen einklagbare Rechte gegenüber der Kirchenleitung. 99,9 Prozent der Kirchenmitglieder haben keine Möglichkeit, sich gegenüber der Kirchenleitung wirksam und verlässlich Gehör zu verschaffen. Das ist der zentrale Missstand im kirchlichen Selbstverständnis, und diese Logik unterscheidet die katholische Kirche von jeder anderen Institution.

Wenn man Sie so hört, stellt sich doch die Frage, ob diese Kirche überhaupt noch „gesellschaftsfähig“ ist – im strengen Sinn des Wortes.

Für die verfasste Kirche in ihrer aktuellen Rechtsgestalt, mit ihren Strukturen, Ämtern und Lehren gilt meines Erachtens ein ganz klares Nein. Das ist durch den Missbrauchsskandal noch offenkundiger zutage getreten, als es ohnehin schon war. Aber die große Mehrzahl der Menschen, die sich als katholisch verstehen und ihren Glauben leben wollen, versteht unter Kirche etwas ganz anderes.

Gilt da nicht: Es gibt kein richtiges Leben im falschen?

Das ist genau der Punkt. Jede Katholikin, jeder Katholik wird sich zu den Strukturen dieser Institution verhalten müssen. Neben dem Austritt gibt es da eine sehr große Bandbreite an möglichen Positionierungen – vom zivilen Ungehorsam bis zum autoritären Backlash. An diesen Reaktionen wird sich die Zukunft der Kirche entscheiden.

Die verbreitetste Reaktion derer, denen die Kirche etwas bedeutet, wird doch der Versuch sein, auch das Gute sehen, was die Kirche tut, oder sich an Menschen in der Kirche zu orientieren, mit denen sie gute Erfahrungen machen.

Aber irgendwo und irgendwann wird man immer mit kirchlichen Handlungsträgern konfrontiert werden – und mit der Frage, wie die mit ihrer Macht umgehen. Und da sehe ich starke Parallelen zum Missbrauchskomplex: Sehr vieles, was mit Machtausübung in der Kirche zu tun hat, ist schambehaftet oder von Tabus umstellt.

Woran denken Sie?

Es wird in der Kirche nicht offen über die Erniedrigungen gesprochen, die Geschiedene in Verfahren zur Annullierung ihrer Ehe erfahren. Es wird nicht über Mobbing in kirchlichen Arbeitsverhältnissen geredet, nicht über Lehrerlaubnisverfahren, denen Theologinnen und Theologen im universitären Kontext ausgesetzt sind und nicht über das Leid, das mit alledem verbunden ist. An jeder Stelle, wo die Übergriffigkeit und Unsauberkeit klerikaler Machtausübung in der Kirche erkennbar wird, bräuchte es aber Öffentlichkeit und Gegenwehr. Die Dinge müssen ans Licht. Wer sie toleriert, verdrängt oder – Stichwort autoritärer Backlash – gutheißt, macht sich mitschuldig.

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Aber es gibt Menschen, die sagen, so erlebten sie die Kirche nicht.

Ich behaupte, da ist viel willentliches Unwissen im Spiel. Die Menschen wollen nicht wahrhaben, was doch offensichtlich ist. Wir haben in der englischsprachigen Welt gesehen, wie wichtig für die Aufarbeitung des Missbrauchs das Benennen der Täter war. Das haben wir in Deutschland so nicht. Da reden wir verstohlen von Pfarrer O. oder Pater H. In den USA stehen auf den Webseiten der Bistümer die Listen der „credibly accused priests“, der glaubhaft des Missbrauchs bezichtigten Priester. Hätten wir so etwas auch bei uns, wäre die Zahl der Menschen deutlich kleiner, die immer noch sagen, „ach, so schlimm ist es doch nicht“.

Sie wollen aber nicht die hierzulande geltenden Rechte des Persönlichkeitsschutzes außer Kraft setzen, die auch für Täter gelten?

Ich versuche nur zu erklären, warum Betroffene es hierzulande schwerer haben, sich Geltung zu verschaffen, und warum wir es in Deutschland mit einer verzögerten Dynamik der Aufarbeitung zu tun haben.