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Kommentar zum MissbrauchsgutachtenTiefpunkt auf der Skala des Kirchenversagens

Lesezeit 4 Minuten
Papst Benedikt Archiv 200122

Das Gutachten erhebt Vorwürfe gegen den ehemaligen Papst Benedikt (Archivbild)

Karl Valentin hat nur fast Recht: Zum sexuellen Missbrauch und seiner Vertuschung in der katholischen Kirche ist schon sehr viel gesagt worden. Von sehr vielen. Und tatsächlich ähneln die Erkenntnisse insbesondere der kirchlich beauftragten Gutachten und Studien einander: In dieser Kirche herrschte ein skrupelloses, gewissenloses und herzloses System des Institutionen- und Täterschutzes, ohne jeden Sinn für die Opfer – von christlichen Glaubens- und Moralgrundsätzen einmal ganz zu schweigen.

Obwohl das alles mittlerweile hinlänglich bekannt ist, markiert das jetzt veröffentlichte Münchner Missbrauchsgutachten einen Tiefpunkt auf der Skala des Versagens, weil es – nur scheinbar paradox – auf die Spitze der Kirche und ihrer Hierarchie zielt, namentlich den früheren Papst Benedikt XVI., der als Kardinal Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising nach Darlegung der Gutachter den uneingeschränkten Einsatz eines als pädophil bekannten Priesters zugelassen und damit weitere Missbrauchstaten ermöglicht hat.

Der Geistliche hat durch die Jahrzehnte eine Spur der körperlichen und seelischen Verwüstung gezogen, erst in Essen, dann in München.

Katholische Kirche heute nicht verstanden, was Missbrauch bedeutet

Sein Fall ist aber doch, könnte man sagen, nur ein einzelner, wenn auch besonders schrecklicher. Aber der Umgang dreier Kardinäle und ihrer engsten Mitarbeiter macht ihn eben auch zu einem exemplarischen. Und die Einlassung des greisen Ex-Papstes, die ein Sonderband des Gutachtens auf mehr als 80 Seiten dokumentiert, verdeutlicht zudem auf bestürzende Weise, dass Benedikt – gewiss unterstützt von den üblichen Verdächtigen aus dem Metier der Kirchenrechtler und Medienanwälte – im Kern bis heute nicht verstanden hat, was Missbrauch bedeutet, worin das Versagen der Kirche liegt und dass das Elend durch Leugnen und Bestreiten immer nur verlängert wird.

Ähnlich wie der verstorbene Kölner Kardinal Joachim Meisner macht dessen theologisches und kirchenpolitisches Idol Joseph Ratzinger für seine Person Unkenntnis und Nicht-Wissen geltend, ein „Nichts geahnt, nichts geahnt“ auf Bayerisch. Und wie bei Meisner wird man nun auch für Ratzinger sagen müssen: Er sagt nicht die Wahrheit und will sich ihr auch nicht stellen.

Wenn Benedikt wörtlich behauptet, der besagte Täter sei in seinem priesterlichen Wirken „tadellos“ gewesen und habe seine widerlichen Vergehen nicht als Priester, sondern als Privatmann begangen, dann ist das eine so dramatische Verkennung und Verzerrung der Realität und zugleich auch des – gerade vom emeritierten Papst – immer hochgehaltenen sakralisierten Priesterbilds, dass man von einer ultimativen Selbstdemontage Benedikts sprechen muss.

Die vielen Reuebekundungen aus seiner Amtszeit von 2005 bis 2013 und das Versprechen einer Aufarbeitung klingen angesichts solcher Einlassungen – biblisch formuliert – wie „dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“: laut, aber substanzlos; eindrucksvoll, aber inhaltsleer.

Wäre falsch, die Schuld einzig bei einer Handvoll hochrangiger Kleriker abzuladen

Was da von (ehedem) höchster kirchlicher Stelle mehr als 20 Jahre nach den ersten großen Skandalwellen und ungezählten Analysen zum Problem des Missbrauchs festgestellt wird, kann als Dementi für alles gelesen werden, was die römische Kirchenleitung in den Jahren unter Benedikt XVI. zur Selbstreinigung und zur Prävention zu unternehmen behauptete. Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger versetzt in einem fast jämmerlich zu nennenden Versuch der Selbstexkulpation sich selbst und seiner Kirche einen Vernichtungsschlag.

„Nicht einen Gerechten“ habe es in München gegeben, mussten die Gutachter im Rückblick auf mehr als 70 Jahre Bistumsgeschichte seit 1945 feststellen. Niemanden also, der an verantwortlicher Stelle dem Rad in die Speichen gefallen wäre. Allerdings war auch die bayerische Justiz offenkundig nicht gerade willens dazu. Man kann mit Fug und Recht von einem behördlich-klerikalen Komplex sprechen, der die „Brüder im Nebel“ beließ. Deshalb wäre es falsch, die Schuld einzig und allein bei einer Handvoll hochrangiger Kleriker abzuladen. Die notwendige Aufarbeitung muss viel weiter gehen – und ganz gewiss kann die Kirche sie nicht allein leisten.

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Was die Kirche aber sehr wohl tun kann und muss: durch Taten beweisen, dass das Reden ernst gemeint ist. Das ist nach der Pulverisierung der vielen großen Worte durch den Alt-Papst ihre einzige Chance. Der erste, der sie ergreifen kann, ist Kardinal Reinhard Marx, in München Ratzingers Nachfolger – und gleichfalls belastet. Einen ersten Rücktritt, den Marx als Eingeständnis institutioneller und persönlicher Schuld verstanden wissen wollte, hat Papst Franziskus abgelehnt und damit wenig Sinn für die politische Dimension der Übernahme oder Niederlegung hoher Ämter bewiesen.

Vom Alt-Papst ist hier offenkundig auch nichts mehr zu erwarten. Aber vielleicht von Marx? Ist jetzt die Zeit für einen Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt?