- Das lange erwartete Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München-Freising belastet amtierende und frühere Amtsträger schwer.
- Darunter ist auch der emeritierte Papst Benedikt XVI.
- Erstellt hat das Gutachten die Kanzlei WSW.
München – Ulrich Wastl genießt den Moment. Als Anwalt hat er Sinn für Dramaturgie. Und auch wenn er im Münchner „Haus der Bayerischen Wirtschaft“ kein Plädoyer hält, sondern das Gutachten seiner Kanzlei WSW zum Missbrauchsskandal im Erzbistum München und Freising präsentiert, weiß er, wie er seiner Darlegung am besten Nachdruck verleiht.
Fast 1900 Seiten umfasst die Arbeit der Anwälte, aufgeteilt in einen Haupt-, einen Anlagen- und einen „Sonderband“ von allein rund 350 Seiten. Und auf die richtet sich das maximale Interesse. Denn in diesem Teil geht es um die Frage: Was wusste der frühere Papst Benedikt XVI., von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof, über einen 1980 aus Essen nach München versetzten pädophilen Priester? Im Gutachten wird er – etwas theatralisch – als „Fall X.“ geführt. Nichts habe er gewusst, beteuert Benedikt, vormals Kardinal Joseph Ratzinger, in einer langen Stellungnahme für die Gutachter. An der entscheidenden Sitzung, in der über den Einsatz des Geistlichen beraten wurde, habe er nicht teilgenommen.
Mit einer Geste, aus der man einen leisen Triumph lesen kann, hält Wastl ein Protokoll der Sitzung hoch: „Der Herr Kardinal berichtet...“, heißt es darin gleich mehrfach. Das klingt nicht nach Abwesenheit. Als „wenig glaubwürdig“ bewerten die Gutachter denn auch die Erklärungen des Alt-Papstes, dessen Umgebung mit dem „hervorragenden Langzeitgedächtnis“ des 94-Jährigen argumentiert: Wenn Benedikt sich an einen bestimmten, wichtigen Vorgang oder Sachverhalt der Vergangenheit nicht erinnern könne, sei davon auszugehen, „dass es nicht so war“.
Die Gutachter dagegen sind der Ansicht: Es war so. Ratzinger setzte nicht nur den besagten Priester, der als Serientäter in der Folge zahlreiche Jungen sexuell missbrauchen und dafür sogar zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden sollte, bedenkenlos in der Seelsorge ein, sondern auch drei weitere Missbrauchstäter.
Fall X: Pfarrer entblößte sich und zeigte pornographisches Material
Zur Bewertung des Falls X. lassen sich Benedikt oder die Co-Autoren, die ihm – mit seiner Unterschrift beglaubigt – die Feder führten, auf eine Weise ein, bei der man Wastls Kollegen Martin Pusch auf dem Podium ein innerliches Schütteln anzumerken glaubt: Der Pfarrer sei als Exhibitionist aufgefallen, aber nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn. „Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen, auch im Zeigen pornographischen Materials. In keinem der Fälle kam es zu einer Berührung.“ Zudem habe der Täter als Privatmann außerhalb seines Wirkens als Priester und Religionslehrer gehandelt. Hier habe er sich nicht das Mindeste zuschulden kommen lassen.
Bei aller Konzentration auf die Rolle Ratzingers betonen die Gutachter auch: Seine Amtszeit in München war nur eine Episode. Schon nach fünf Jahren setzte er zum Karriere-Höhenflug gen Rom an.
In München änderte sich unter seinen Nachfolgern Friedrich Wetter (Erzbischof von 1982 bis 2008) und Reinhard Marx (seit 2008) wenig bis gar nichts. Opferfürsorge? Fehlanzeige. Ein Bemühen, die Täter in Schach zu halten, um erneute Übergriffe und damit weitere Opfer zu verhindern. Nicht erkennbar. Was es gab, war „ein generelles Geheimhaltungsinteresse“, mit dem die Bistumsleitungen – ein neuer Akzent in gutachterlichen Stellungnahmen – nicht zuletzt Konflikt und Spaltung in die Gemeinden getragen hätten, aus denen die Täter von Mal zu Mal weiterversetzt wurden.
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In der „Vorstellungswelt“ der Verantwortlichen seien die Geschädigten „so gut wie überhaupt nicht vorgekommen“. Und wenn, dann nicht wegen des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für das Erzbistum und die Institution Kirche ansah. Es gab, führen die Gutachter so lapidar wie erschreckend aus, „eine vollständige Nichtwahrnehmung der Opfer“. Das deckt sich nicht nur mit eigenen Befunden der Kanzlei in einem ersten Gutachten von 2010, sondern auch mit den Ergebnissen von Studien aus anderen Bistümern.
Nur aus Zwischenbemerkungen wird erkennbar, wie groß der Druck auf die Kanzlei war. Etliche Münchner Matadore bis hinauf zum Papa emeritus hatten sich anwaltlichen Beistands versichert. Zeitweilig stand die Pressekonferenz zur Publikation des Gutachtens auf der Kippe. Erst kurz vorher, so heißt es, drehten Benedikt und seine juristischen Prätorianer bei.
Männerbünde und lebensfremde Sexualmoral
Zu den systemischen Ursachen – ebenfalls vieldiskutiert und oft beschrieben – wie einem übersteigerten Klerikerbild, Korpsgeist und männerbündischen Strukturen, einer lebensfremden Sexualmoral und vor allem unreflektierten und unkontrollierten Machtverhältnissen – verweisen die Gutachter in der Pressekonferenz auf ihre Darlegungen im Text. Sie betonen aber, dass eine Analyse, „die sich lediglich auf die Benennung administrativer Mängel beschränkt, erheblich zu kurz greift“.
Ist das noch eine eher subtile Anspielung auf die reine Rechtmäßigkeitsprüfung im Kölner „Gercke-Report“ von 2021, folgt wenig später eine volle Breitseite aus München in Richtung Köln. Die Gutachter nennen die Arbeit ihres Kollegen Björn Gercke, die ab 2020 ihre eigene von Kardinal Rainer Woelki als nicht veröffentlichungsfähig beurteilte Studie ersetzen sollte, eine „Bankrotterklärung“, weil sich die 900 Seiten allein auf die – bekanntermaßen lückenhaften – Akten stützen und nicht auch auf Zeitzeugenbefragungen. Diese hätten in München zu entscheidenden Erkenntnissen geführt, etwa auch zu einer Neubeurteilung der Rolle Ratzingers.
Komplott zugunsten von Papst Benedikt XVI.?
Ohne das Wort in den Mund zu nehmen, zeichnen die Gutachter Vorgänge aus dem Jahr 2010 als ein Komplott zugunsten des damaligen Papstes nach. Der langjährige Generalvikar Gerhard Gruber sei massiv gedrängt worden, im Fall H. die alleinige Verantwortung zu übernehmen. Was Gruber seinerzeit auch tat. Die Absicht war klar: Angesichts eines Recherche-Ansturms buchstäblich aus der ganzen Welt sollte der Erzbischof, der es zum Kardinalpräfekten und zum Pontifex maximus brachte, aus der Schusslinie genommen werden.
Dass Grubers Chef, der Kardinal, von X.s Vorgeschichte und dem bedenkenlosen Einsatz in der Seelsorge nichts gewusst habe, hat Gruber in nochmaligen Befragungen inzwischen – vorsichtig formuliert – relativiert: Im Oktober 2021 hatte er nach eigener Aussage jedenfalls keinen Zweifel mehr daran, dass Ratzinger die Umstände im Fall X. im Bilde war.
Was Grubers Schwenk innerkirchlich für ihn bedeuten wird, ist offen. Möglicherweise bekommen er und andere – teils noch amtierende – Kirchenfunktionäre wie Offizial Lorenz Wolf, der oberste Kirchenrichter des Erzbistums, es aber auch mit der Staatsanwaltschaft München I zu tun. Auf Hinweis der Gutachter vom August 2021 laufen Ermittlungen, ob kirchliche Amtsträger Beihilfe zum sexuellen Missbrauch geleistet, sich indirekt an Körperverletzungen beteiligt oder sich der Strafvereitelung schuldig gemacht haben. Ob sie strafrechtliche Konsequenzen fürchten müssen? Kaum, sagt Ulrich Wastl, einfach deshalb, „weil zu viel Zeit ins Land gegangen ist“.