Schäubles Karriere war einzigartig: Seit 1972 gehörte er ohne Unterbrechung bis zu seinem Tod am Dienstagabend dem Bundestag an.
NachrufWolfgang Schäuble, der „ewige Abgeordnete“
Als Wolfgang Schäuble im zweithöchsten Staatsamt angekommen war, das für die meisten deutschen Politiker ohne Zweifel der Karrierehöhepunkt ist oder wäre, da war das für den CDU-Veteranen nur die letzte große Rolle von vielen, die er in seinem langen politischen Leben gespielt hatte. Aber es war eine, die zum späten Schäuble, der lebenden Legende, passte.
Nicht nur, weil der Bundestagspräsident, zu dem er 2017 gewählt wurde, ein Mann für die großen, grundsätzlichen Reden ist und weil er für die Führung des Parlamentsbetriebs eine Autorität brauchen kann, die aus einer Karriere wie Schäubles fraglos erwächst. Sondern auch wegen der Unabhängigkeit: der Bundestagspräsident darf sich der Regierung nicht unterordnen und muss sich keiner Mehrheitsmeinung beugen. Er darf mehr sein als ein „elder statesman“ mit altersweisen Ermahnungen. Und das war Schäuble nach seinen rund 50 Jahren in der Bundespolitik.
Pathos war ihm bis zuletzt verdächtig, einerseits. Wer ihn zum Interview in seinem üppigen Parlamentspräsidentenbüro im Reichstag traf, um sich von ihm die historische Dimension eines anstehenden Urnengangs als „Schicksalswahl“ einordnen zu lassen, dem antwortete Schäuble mit schräggelegtem Kopf: „Es ischt immer gut, man stapelt ein bisschen tiefer.“ Das folgende Lächeln empfanden manche als spöttisch, manche als schelmisch.
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Schäuble prägte die Nachkriegsgeschichte mit wie nur wenige andere
Schäuble, 1942 in Freiburg geboren und gelernter Jurist, hatte sich da längst einen Ruf als bürgerlicher Intellektueller erarbeitet. Nun hatte er bedeutungsschwangere Kunst um sich versammelt; an der Stirnseite des Büros balancierte etwa die Plastik eines Seiltänzers vor einem dramatisch leuchtenden Hintergrund in Gelb und Orange: Das Balancieren durch dramatische Zeiten, das war auch seit Jahrzehnten Schäubles Schicksal gewesen.
Schon früh hatte er dabei eine aktive Rolle übernommen - und so seit seinem Einzug in den Bundestag 1972 die Nachkriegsgeschichte mitgeprägt wie nur wenige andere: Er war der dienstälteste Abgeordnete in der Geschichte nationaler deutscher Parlamente, 19 Jahre Bundesminister, vier Jahre Bundestagspräsident. Er war einer der Architekten der Wiedervereinigung, führte mit einer legendären Rede den Umzug der Bundeshauptstadt nach Berlin herbei. Von 1984 bis 1989 war er Kohls Kanzleramtschef, bis 1991 sein Innenminister, von 1991 bis 2000 Unionsfraktionsvorsitzender.
Unter Angela Merkel wurde Schäuble ab 2005 sogar noch mächtiger, machte sich als Innenminister wegen seines Kampfs für die Vorratsdatenspeicherung linke und liberale Gegner und wurde als Finanzminister zu „Mister Schwarze Null“, weil er 2014 den ersten Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung seit 45 Jahren vorlegte. Im Zuge der Euro-Krise stieg er zu einem der einflussreichsten Politiker Europas auf - und wegen seiner harten Hand gegen die Südeuropäer zu einem der verhasstesten. Die Griechen hätte er am liebsten eine Zeitlang aus der Eurozone geworfen. „Isch over“, drohte er. Merkel verhinderte es.
Schon wegen all dieser Erfahrungen hatte sich Schäubles Blick weit übers Tagespolitische hinaus geweitet, erst recht, als er auch noch Bundestagspräsident wurde, weil Angela Merkel ihn nach ihrer dritten Wiederwahl nicht mehr als Finanzminister unterbringen konnte oder mochte.
„Die Menschen finden sich in Gemeinschaften von Gleichgesinnten“
Und so hob er im selben Gespräch, in dem er eben noch über die Hysterie in den sozialen Medien gespottet hatte, eben doch zu grundsätzlichen Warnungen an, wonach die Blasenbildung im Internet die Debattenkultur zerstöre und man die Demokratie gefährde, wenn man sie als selbstverständlich nehme. „Die Menschen finden sich in Gemeinschaften von Gleichgesinnten“, sagte er. „Kommunikation heißt aber, dass ich mich mit anderen unterhalte, die andere Meinungen, andere Interessen, eine andere Sicht der Dinge haben. Darauf haben wir noch keine guten Antworten, nirgends in der westlichen Welt, und deshalb ist das westliche Modell unter Stress.“
Wolfgang Schäubles Leben war stets voller Brüche und scharfer Wendungen, die seinen ohnehin kämpferischen Charakter weiter formten. Der größte Bruch war fraglos das Attentat am 12. Oktober 1990, bei dem ein psychisch kranker Mann den damaligen Bundesinnenminister mit Revolverschüssen schwer verletzte. Schäuble hatte seine Karriere gerade erst mit der Aushandlung des Einigungsvertrages gekrönt, zählte zur Führungsreserve der CDU/CSU. Nun saß er im Rollstuhl.
Doch Schäuble raffte sich auf, gab sechs Wochen später seine erste Pressekonferenz und trieb auch wieder Sport. Kein Zweifel, der Mann war ein Kämpfer.
Gesundheitlich musste Schäuble das erneut beweisen, als er 2010 als Finanzminister lange schwer erkrankte. Die Ärzte sahen sein Leben in Gefahr, er fehlte bei wichtigen Eurokrisentreffen, in den Medien wurden schon Rücktrittsforderungen laut. Doch Merkel lehnte seine Rücktrittsangebote ab, er berappelte sich abermals. Erst nach seinem Tod am zweiten Weihnachtstag ist nun bekannt geworden, dass Schäuble bereits seit Jahren an Krebs erkrankt war. Er hatte es nicht öffentlich gemacht und sich zuletzt ohnehin zurückgezogen, nachdem seine Ehefrau Ingeborg nach einem schweren Unfall selbst hilfsbedürftig geworden war.
Sein Bundestagsmandat, das er 14 Mal in Folge direkt gewonnen hatte, gab er dennoch nicht zurück. Er würde das als Verrat am Wähler empfinden, hatte Schäuble nach der verlorenen Bundestagswahl gesagt.
Zu den großen Niederlagen in seiner Karriere zählte schließlich die, die zum Bruch mit seinem Förderer und Weggefährten Helmut Kohl geführt hatte: Es war 1997, Schäuble machte sich Hoffnungen auf die Kanzlerkandidatur im folgenden Jahr – und hinterließ bei den Delegierten des Leipziger Parteitages im Oktober einen weitaus agileren Eindruck als der Amtsinhaber. Nach dem Ende des Parteitages verkündete Kohl zwar tatsächlich, dass der Unionsfraktionschef sein Nachfolger werden sollte – aber erst 2002. Damit war Schäubles Kanzlerkandidatur dahin.
Kohl verlor die Wahl. Rot-Grün und Gerhard Schröder kamen an die Macht. Schäuble wurde CDU-Vorsitzender. Dies war der Keim eines weiteren Bruchs. Denn im Zuge der 1999 beginnenden CDU-Parteispendenaffäre wurde publik, dass Schäuble entgegen eigener Schwüre 100.000 D-Mark von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber angenommen hatte. Er musste zurücktreten. Das verhalf Angela Merkel, die Schäuble gerade erst zu seiner Generalsekretärin gemacht hatte, an die Spitze der Partei.
Angela Merkel schätzte Schäubles Rat
Schäubles Verhältnis zu Merkel entwickelte sich in der Folge ähnlich kompliziert wie das Verhältnis zu Kohl. Wieder war er die Nummer zwei. Als der Erfahrenere und Konservativere stichelte er bisweilen gegen sie. 2015 verglich er etwa die Flüchtlingsbewegung nach Deutschland mit einer Lawine: „Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt.“ Eine Anspielung auf Merkels flüchtlingsfreundlichen Kurs, für die er sich später bei ihr entschuldigt haben soll. In der Coronakrise erregte Schäuble mit dem Lockdown-kritischen Satz Aufsehen, „der Staat kann nicht jeden Menschen vor dem Tod schützen“.
Doch Merkel schätzte seinen Rat unverändert. „Deutschland verliert mit ihm eine überragende Persönlichkeit mit politischer und programmatischer Weitsicht“, würdigt ihn die Altkanzlerin in einem Statement an diesem Mittwoch. „Wolfgang Schäuble hatte die Fähigkeit, weit über den Tag hinaus große politische Entwicklungen zu erkennen und zu gestalten.“ Auch für sie persönlich sei er zunächst „politischer Lehrmeister“ und später „einer der Anker meiner ersten drei Kabinette“ gewesen.
Viele konnten sich Schäuble auch im höchsten Staatsamt vorstellen, als Bundespräsidenten. Das allerdings hat Merkel letztlich verhindert, so wie Kohl die Erfüllung seiner Kanzlerträume.
Der letzte Bruch in Schäubles Biografie ergab sich aus der Bundestagswahl 2021. Klar ist, dass sie ohne Schäuble anders verlaufen wäre, denn er hatte erst CDU-Chef Armin Laschet zur Kanzlerkandidatur gedrängt und diese Nominierung dann bei einer Nachtsitzung gegen die CSU-Spitze durchgesetzt. Das zeigte zwar die damalige Macht des CDU-Granden Schäuble. Aber der Schuss ging nach hinten los. Die Union verlor die Wahl und Schäuble sein letztes Amt, das des Parlamentspräsidenten.
Diese Niederlage und der Verlust einer großen Aufgabe machten etwas mit ihm. Der Mann, der mit 51 Jahren so lange im Bundestag saß wie niemand vor ihm, war plötzlich nicht mehr im Zentrum des Geschehens, sondern eine Randfigur. Das hinterließ Spuren. Man konnte Schäuble das Alter und die Krankheit zunehmend ansehen.
Schäuble war politisch zuletzt eine Randfigur
In den letzten Monaten sah man den 81-Jährigen dann und wann durch die Lobby des Reichstages rollen. Kein Kamerateam wollte noch ein Interview, kein Parteifreund suchte noch demonstrativ die Nähe. Er wirkte nun tatsächlich wie einer, dessen Zeit vorüber ist.
Politisch war Wolfgang Schäuble ein Solitär. Menschlich war er bisweilen schwierig. Der Christdemokrat konnte liebenswürdig sein. Intelligenz machte ihm stets am meisten Eindruck. So nannte Schäuble seine Landsfrau, die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, erst kürzlich „blitzgescheit“. Das war ein Ritterschlag. Er konnte allerdings auch herrisch und schneidend sein. So beschied Schäuble einen Interviewer mal mit den Worten: „Die meisten Fragen kann man sich durch Nachdenken selbst beantworten.“ Ein Kompliment war das nicht.
Seinen letzten großen Auftritt hatte Schäuble als Alterspräsident des Bundestages. Nach einer Regeländerung, die die Eröffnung der Legislatur durch einen AfD-Mann verhinderte, ist er es als dienstältester Abgeordneter, der die konstituierende Sitzung leitet.
„Konsens“, sagt er in seiner Ansprache, „wird in diesem Haus auch zukünftig nicht die Regel sein, und das sollte es auch nicht.“ Im Bundestag sollte leidenschaftlich gestritten werden. „Das wird noch wichtiger, weil in unserer Gesellschaft die Bereitschaft sinkt, gegensätzliche Standpunkte auszuhalten.“ Wichtig sei aber, „fair und nach Regeln“ zu streiten, so Schäuble weiter: „mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann“. Leidenschaftlich und gelassen zugleich: Es war der Ruf nach Balance, ein Abschied nach Schäuble-Maß.
Nach der Rede applaudiert ihm das ganze Haus, stehend. Von ganz links bis ganz rechts. Bis Schäuble ruft: „Bringen Sie mich bitte nicht zu sehr in Rührung!“ Eine Ermahnung, die zugleich ein Dank war. Ein echter Schäuble.