Die Theologin Julia Knop schreibt über trügerische Stabilität und Aufbruchsimpulse. Ein Gastbeitrag.
Vor dem neuen Jahr 2024Alles bleibt anders – über die Irritation von Zeitenwenden
Bleibt alles anders? Oder wird alles neu? Was mag 2024 bringen? Alles auf Anfang, zurück auf Los – das gibt es nur im Spiel. In der Wirklichkeit überspringen die Zumutungen des alten Jahres mit Leichtigkeit die Schwelle der kleinen, symbolischen Zeitenwende, für die der Jahreswechsel steht. Sie bleiben 2024 so komplex und überfordernd wie 2023.
Die großen „Zeitenwenden“ – Kanzler Scholz prägte angesichts von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine den Begriff – halten sich an keinen Kalender. Aber sie bestimmen die Zeit. Vor Corona sah die Welt anders aus. Seit dem 7. Oktober blicken wir anders auf die ungelösten Konflikte im Nahen Osten. Wie es weitergehen kann, ist noch unklar. Klar ist nur, dass die alten Antworten nicht mehr passen.
Ob klein und symbolisch wie an Neujahr oder groß und überfordernd wie in den aktuellen weltpolitischen Krisen: Eine Zeitenwende irritiert. Das kann produktiv sein. Irritation kann helfen zu klären, was wichtig ist und wo ein Perspektivwechsel angezeigt ist. Viele nehmen den Jahreswechsel zum Anlass, bewusst zurück und bewusst nach vorn zu schauen: Was will ich beibehalten? Was muss ich ändern?
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Noch ist nicht absehbar, ob die großen Krisen der vergangenen Jahre auf lange Sicht auch produktive Kräfte entfalten und nötige politische Reformen anstoßen werden. Derzeit herrscht eher Verstörung. Alle sind erschöpft und gereizt. Diese Weltenlage überfordert. Die Sehnsucht nach simplen Lösungen ist groß. Veränderungen sind anstrengend.
Auch Weihnachten, gerade eine Woche her, sollte einmal eine Zeitenwende sein. Zumindest das allererste Weihnachten vor 2000 Jahren im Stall von Bethlehem. Es sollte ein Vorher und ein Nachher schaffen, den Moment markieren, von dem an alles anders wurde. Bis heute zählen wir deshalb die Jahre „vor und nach Christi Geburt“. Auch diese Zeitenwende irritierte, allerdings zum Guten: „Frieden auf Erden den Menschen seiner (Gottes) Gnade“ (Lukas-Evangelium 2,14), so hörten die Hirten Engel singen. Sie hörten von einer echten Alternative zur zeitgenössischen Version politischer Stabilität, für die die Pax Augusta stand, die gewaltsame Befriedung des römischen Reiches mit militärisch gesicherten Grenzen und dem Kaiser an der Spitze. Diese Pax Romana brachte zwar politische Ruhe, aber um den Preis der Freiheit.
Der Weihnachtsfrieden dagegen sollte die Menschen freisetzen. Er sollte Raum schaffen für Veränderung. Religion als Motor individueller, kultureller und politischer Entwicklung, als treibende Kraft für Frieden und Gerechtigkeit. Welch eine Verheißung!
Keine Frage: Das Christentum hat im Laufe der Zeit wichtige Dynamiken in Gang gesetzt, etwa im Bildungswesen, in der Gesundheitsfürsorge, in der Sozialpolitik. Gegenwärtig geht von ihm aber wenig Aufbruchsstimmung aus. Religion scheint mehr und mehr ein Reservat des Konservatismus, sogar des Kulturkampfes zu werden. Man vergewissert sich lieber der vermeintlich „guten alten Zeiten“, statt angesichts der heute drängenden Herausforderungen beherzt aufzubrechen. Statt aus dem Vertrauen, dass Gott es gut meint mit dieser Welt, mutig neue Wege einzuschlagen: „Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade!“
Es ist an der Zeit, diesen prophetischen Impuls des Christentums wiederzuentdecken. Als die friedlichen Proteste in der DDR immer kraftvoller wurden, nahm ein Lied von Klaus-Peter Hertzsch seinen Lauf, das diese Aufbruchsstimmung ins Wort bringt und religiös grundiert: „Vertraut den neuen Wegen!“
Geschrieben anlässlich einer privaten Familienfeier, traf es im Herbst 1989 die politische Stimmung vieler DDR-Bürgerinnen und Bürger. Dass diese Monate einmal „Wendezeit“ genannt werden würden, konnte noch niemand ahnen. Dennoch: „Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit! Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.“
Die Aufbruchsstimmung der frühen 1990er Jahre ist verflogen. Doch die Irritationen dieser Zeitenwende wirken weiter nach. Politische Stabilität, die auf Abgrenzung beruht und Freiheit kostet, scheint vielen wieder attraktiver zu sein als eine offene Gesellschaft, die vom Mut und Miteinander aller lebt.
Zeitenwenden irritieren. Sie sind anstrengend. Sie fordern dazu heraus, neue Wege, neue Perspektiven auszuprobieren. Aber sie tragen auch dieses Moment der Verheißung in sich: dass es anders besser werden könnte. Wer das Weihnachtsfest religiös deutet, kann in dieser Zeitenwende vor 2000 Jahren Grund zur Hoffnung finden. Aber auch die symbolische Zeitenwende zum Jahreswechsel birgt diese Verheißung: Es könnte gut werden. „Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“
Die Autorin
Julia Knop, geb. 1977, ist Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Knop zählt zu den profiliertesten Vertreterinnen und Vertretern ihres Fachs. Sie war in der Vollversammlung des Reformprozesses „Synodaler Weg“ vertreten und ist Mitglied in dem Folge-Gremium Synodaler Ausschuss. Ihr Text folgt auf den Gastbeitrag des rheinischen Präses Thorsten Latzel zu Weihnachten.