Der Klimaprotest geht auch nach der Räumung von Lützerath weiter. In Keyenberg sorgt man sich vor allem um eins: Dass die Aktivisten nicht mehr verschwinden.
Proteste bei LützerathBewohner der Braunkohledörfer sorgen sich um Radikalisierung von Aktivisten
Der Treffpunkt ist eine schmale Landstraße am Tagebau Inden. Es ist kurz nach sechs Uhr am Dienstagmorgen, Finsternis im Rheinischen Braunkohlerevier. Etwa 30 Personen steigen aus einem ausrangierten Linienbus, sie sind vermummt und tragen weiße Maleranzüge, gesprochen wird kaum. Dann setzt sich der pinke Finger in Bewegung. So nennen die Klimakämpfer von „Ende Gelände“ ihre Aktionsgruppen.
Begleitet von drei Sanitätern aus dem Kollektiv marschiert die Kolonne einen matschigen und unbewachten RWE-Betriebsweg hinab zur Tagebausohle. Aus der Ferne ist das Klackern der Schaufelradbagger zu hören, im Hintergrund blinken die roten Signalleuchten der Windräder. Ein paar Schneeflocken fallen.
Tagebau Inden: Aktivisten von „Ende Gelände“ besetzen Braunkohlebagger
Ungefähr eine Stunde später vermeldet der Aktivisten-Trupp von „Ende Gelände“ die Besetzung eines Baggers, der zeitweilig seine Arbeit einstellen muss. Die Polizei Aachen spricht von 20 bis 30 beteiligten Aktivisten, ein Sprecher des Energiekonzerns RWE von 30 bis 40. Alle seien am Ende freiwillig vom Bagger geklettert, sagt ein Polizeisprecher.
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Zwei Tage nach dem offiziellen Ende der Räumung von Lützerath am Rande des Tagebaus Garzweiler II hat das Aktionsbündnis „Lützerath unräumbar“ zum großen Aktionstag ausgerufen. Die Strategie: Überraschung. Mit dabei die allseits Bekannten: Letzte Generation, Extinction Rebellion, Fridays for Future. Kaum hat sich der pinke Finger auf dem Bagger festgesetzt, bestätigt der gelbe Finger die Besetzung einer Kohlebahn direkt am Kraftwerk Neurath.
Nach Räumung von Lützerath: Aktivisten kleben sich in Köln auf der Straße fest
Auf den Gleisen sitzen etwa 130 Aktivisten gehüllt in goldene Wärmefolien, mampfen Brötchen und singen im Kanon „Auf die Barrikaden! Leistet Widerstand“. Demo vor dem Düsseldorfer Landtag, Klebeblockade vor dem NRW-Innenministerium, Sitzblockaden an RWE-Zufahrtsstraßen. In Köln kleben sich Klimaaktivisten auf einer Straße fest und bringen damit den Berufsverkehr massiv ins Stocken.
In Berlin haben Mitglieder von „Scientist Rebellion“ die NRW-Landesvertretung blockiert. Auf einem Bild posieren sie mit dem gelben X, dem Zeichen der Anti-Braunkohlebewegung.
Aus einem Demonstrationszug bei Keyenberg lösen sich zwei größere Gruppen und stürmen in Richtung Kante des Tagebaus Garzweiler II und Lützerath. Auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg ist wieder mit dabei.
Proteste nach Abriss von Lützerath: Polizei und Klimaschutzaktivisten geraten aneinander
Es kommt vereinzelt zu Zusammenstößen. Die Polizei ist mit einem Großangebot vor Ort, darunter wie schon am Samstag auch Pferde- und Hundestaffeln. Die Beamten setzen Pfefferspray und Schlagstöcke ein. Mehrere Personen wurden nach Angaben der Polizei in Gewahrsam genommen.
Nach der Demonstration gelangte nach Angaben des Energiekonzerns RWE eine Person in den Braunkohletagebau. Bis zum frühen Abend blieb die Lage dynamisch. Nach der Kundgebung am Samstag hatten die Aktivisten der Polizei unverhältnismäßige Gewalt vorgeworfen. Jetzt mussten sie allerdings einräumen, dass es anders als zunächst behauptet keine lebensgefährlich Verletzten gegeben hat.
Die Aktivisten zeigen sich entschlossen. „Lützerath ist zwar geräumt, aber solange die Kohle im Boden ist, werden wir weiter protestieren“, sagt Luka Scott, Sprecherin von Ende Gelände, auf dem Aussichtspunkt am Tagebau Inden. „Ab jetzt ist Lützerath überall!“ Am Montagabend, wenige Stunden nach ihrer Aufgabe, hatten die beiden Tunnelbesetzer „Pinky“ und „Brain“ ein Statement veröffentlicht: Da sich sonst niemand kümmere, müssten die Aktivisten den „notwendigen sozialen Wandel selbst in die Hand nehmen“, heißt es da.
Nach Abriss von Lützerath: Forscher rechnen mit Zunahme von Konflikten
Dass mit dem Abriss von Lützerath der Widerstand gegen die Kohleförderung abebbt, glaubt auch Daniel Mullis nicht. Er ist Protestforscher bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main. „Die Proteste dürften in den nächsten Jahren erstmal zunehmen“, sagt er. Vielleicht sogar mit erhöhter Intensität. Lützerath habe die einzelnen Gruppierungen, die aufgrund unterschiedlicher Protestformen zuvor eher nur koexistierten, zusammenwachsen lassen.
Auch Aktivisten von Friday for Future seien dieses Mal nicht nur auf die Straße gegangen, sondern hätten zivilen Ungehorsam geübt und sich wie sogar die Frontfrauen Greta Thunberg und Luisa Neubauer von Polizisten wegtragen lassen. „Das ist eine neue Entwicklung, die aus der gemeinsamen tief empfundenen Unzufriedenheit gegenüber den politischen Entscheidungsträgern herrührt“, sagt Mullis. Die Diversität des Demonstrationszugs am Samstag beispielsweise habe gezeigt, dass sich der Protest in der Mitte der Gesellschaft festgesetzt und verankert habe.
Das sieht Barbara Oberherr ganz anders. Am Montagabend diskutiert die 62-Jährige bei einer Krisensitzung mit den Vorsitzenden ihres vor neun Monaten gegründeten Vereins „Zukunftsdörfer“ in der ehemaligen Feuerwehrwache in Kuckum. Sie sehen sich ebenfalls als Mitte der Gesellschaft.
Der Ort ist einer der fünf Dörfer, die seit dem Deal zwischen Grünen und RWE als gerettet gelten. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung hatte RWE bereits umgesiedelt, die verlassenen Häuser rotten seitdem vor sich hin. Oberherr und ihre Mitstreiter haben selbst viele Jahre Widerstand gegen RWE geleistet. Sie wollten nicht zulassen, dass ihre Heimat der Braunkohle geopfert wird und sind geblieben. Als eine der wenigen.
Aber die Dinge haben sich geändert. Anders als die Aktivisten sehen sie keinen Schulterschluss mehr zwischen Dorfbewohnern und einem Großteil der Protestbewegung. Bei Rotwein und Schokolade schimpfen sie im schmucklosen Aufenthaltsraum, wie am Samstag mehr als 30.000 Menschen in ihre Region eingefallen seien, Wände der leerstehenden Häuser beschmiert und sich in Gärten entleert hätten. Der Verein hat deshalb Beschwerdebriefe an den zuständigen Aachener Polizeipräsidenten und das Ordnungsamt verschickt.
Bewohner befürchten, dass die Aktivisten nicht nicht mehr gehen wollen
Viel schlimmer aber wiege die Befürchtung, dass die Aktivisten gar nicht mehr gehen wollen. Auch in Kuckum haben sie ein Protestcamp errichtet, auf dem verlassenen Ascheplatz des einstigen Sportvereins.
Viele Jahre sei man einen gemeinsamen Weg gegangen, der bürgerliche und der aktivistische Widerstand. Dafür sei man auch dankbar, sagt Oberherr, die in Keyenberg wohnt. Denn ohne diesen gemeinsamen Kampf hätte man weder den Hambacher Wald noch die Dörfer gerettet.
In den vergangenen beiden Jahren jedoch habe sich der Ton verändert, sei radikaler geworden. Oberherr und die anderen in der Feuerwache fühlen sich ideologisch bevormundet. Etwa 70 Prozent der verbliebenen Dorfbewohner hätten einen an die Aktivisten im Protestcamp Keyenberg gerichteten Brief unterschrieben, in dem sie deutlich machen, dass sie nach all den aufzehrenden Jahren des Kampfs nun endlich ihre Ruhe haben wollen. „Wir wehren uns strikt gegen diese Fremdbestimmung“, heißt es in dem Schreiben.
Dann legt sie Sie noch eine kleine Broschüre auf den Tisch mit dem Titel „Nach der Kohle - Das Rheinland der Gemeinschaft“. Auf mehreren farbig gedruckten Seiten wird die Vision eines neuen Zusammenlebens in der Region entsponnen, unabhängig von Unternehmen und Staat. Als einer der Autoren wird auf der letzten Seite die „Interventionistische Linke“ (IL) aufgeführt. Die IL wird von den Sicherheitsbehörden als linksextremistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet.
Oberherr und die anderen fürchten nun einen politischen Umsturz. Sie haben Sorge, dass die Aktivisten die leerstehenden Häuser besetzen und hier ihre Vision von einer anti-kapitalistischen, autonomen Gesellschaft umsetzen könnten. „Es fühlt sich an wie eine feindliche Übernahme“, sagt sie.
Protestforscher verortet Klimabewegung in der Mitte der Gesellschaft
Protestforscher Mullis glaubt nicht an eine problematische Radikalisierung im Sinne eines Terrorismus, wie es manche mit Verweis auf die Bildung einer Klima-RAF herbeireden würden. „Die Transformation wird immer mehr zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe.“ Auch deshalb werde sich die Klimaprotestbewegung immer weiter in der Mitte verorten.
„Eine Spaltung sehe ich nicht.“ Die Szene entstamme zwar dem linken Spektrum, gleichwohl arbeite diese inzwischen vor allem mit den Instrumenten der Zivilgesellschaft. So würden sich beispielsweise immer mehr Menschen mit vollem Namen und unvermummt in der Presse äußern. Auch ziviler Ungehorsam, also Besetzungen, Blockaden, Einsatz des eigenen Körpers als Protestmittel, hält Mullis für unproblematisch.
„So wie er von der Klimaprotestbewegung praktiziert wird, nämlich gewaltfrei, ist er in hohem Maße legitim, eine Demokratie muss das aushalten.“ Sollte die Politik aber den Schwung der Proteste jetzt nicht mitnehmen und die erforderliche Transformation verschleppen, könnten Prozesse der Resignation einsetzen. Dies befördere Politikverdrossenheit und den Rückzug ins Private. Das wiederum könne sich als schädlich für die Demokratie erweisen.
Im Moment aber ist an Resignation kaum zu denken. In ihren zahlreichen Telegram-Kanälen feiern die Aktivisten ihre Erfolge des Aktionstags. Dass sie das Rheinische Revier demnächst verlassen, ist unwahrscheinlich. Ende-Gelände-Sprecherin Luka Scott sagt: „Solange die Zerstörung durch RWE anhält, werden wir bleiben.“