Die Städtepartnerschaften zum israelischen Ganey Tikva und ins palästinensische Beit Jala bestehen lange. Nach dem Terror-Anschlag der Hamas gerät das Dreieck unter Druck.
Städte-Zerreißprobe nach Hamas-TerrorBergisch Gladbach ringt um die brüchige Freundschaft zu Israel und Palästina
Der Tag ist gerade aufgewacht, das Meer streckt sich wie ein Spannbettlaken ganz flach und blau in alle Himmelsrichtungen, als die ersten Nachrichten des Hamas-Terrors hart in der Idylle aufschlagen. Lutz Urbach, 57, Verwaltungswissenschaftler, Ex-Bürgermeister, CDU-Mitglied, Vorsitzender der Städtepartnerschaft Ganey Tikva – Bergisch Gladbach, schippert seit einer Woche mit der ganzen Familie übers Mittelmeer. Die angesammelte Entspannung der vergangenen Tage entweicht mit einem Schlag aus seinem Körper.
Er ist sofort alarmiert. In den Kontakten seines Handys sucht er aufgeregt nach drei Namen. Drei Freunde aus der israelischen Partnerstadt: Lizy Delaricha, Bürgermeisterin, Ruthy, Verwaltungsmitarbeiterin, Zwi, Holocaustüberlebender. Er tippt: „Schreckliche Nachrichten. Hoffe, dass bei euch alles in Ordnung ist!“ Sorgen, Fragen, atemlos.
Israel und Palästina: Schüleraustausch geplant
Stephan Dekker, 55, Vorsitzender des Städtepartnerschaftsvereins zwischen Bergisch Gladbach und dem palästinensischen Beit Jala im Westjordanland hat zu Hause zur selben Zeit quasi gerade seine Koffer ausgepackt und alle Kleidungsstücke daraus wieder frisch gewaschen im Schrank verstaut. Zehn Tage liegt seine Reise nach Israel und die Palästinensergebiete zurück. Mit Lehrern der Integrierten Gesamtschule Paffrath sowie einer lokalen Tanzgruppe habe man Tel Aviv besucht, Jaffa, Yad Vashem sowie Beit Jala und Jerusalem.
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Ein Schüleraustausch für das kommende Frühjahr sei organisiert worden. Auch ein Peace-Festival stand auf dem Programm. Im Gepäck hatte die Delegation energieeffiziente LED-Technik, die nun Kreuzungen in der Altstadt von Beit Jala erleuchtet.
Dekker liest all die Horror-Nachrichten, guckt sich jedes Video der Gräueltaten der Hamas an. „Ich habe den gesamten Samstag, eigentlich das gesamte Wochenende, in Schockstarre verbracht.“ Die Bundesliga, deren Anstoßzeiten dem FC-Fan sonst die Wochenenden strukturieren, erlebt er nur nebenbei. Im Nebel. „Am schlimmsten fand ich die Aufnahmen von den Menschen, die auf Motorräder gezerrt und verschleppt wurden. Die junge Frau auf dem Lieferwagen mit dem abgeknickten Bein.“
Samstag, 7. Oktober 2023. Der Terror-Angriff der Hamas aus dem Gazastreifen auf den Staat Israel hat einen weiteren Nahostkrieg ausgelöst. Die Bilder und Videos zeigen eine beispiellose Brutalität und Mordlust, Israel wird Vergeltung üben. Und auch wenn die angekündigte Bodenoffensive noch nicht losgeschlagen hat: Israels Recht auf Selbstverteidigung steht außer Frage. Die Hamas, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Israel auszulöschen, wird für alle Opfer verantwortlich sein, auch für die auf palästinensischer Seite. Bestialisches Abschlachten ist nicht mit Unzufriedenheit über politische Umstände zu rechtfertigen, so fasst es NRWs Ex-Ministerpräsident Armin Laschet zusammen.
Auch in Bergisch Gladbach, wo Lutz Urbach seinen Freund und Kollegen Stephan Dekker, Fachbereichsleiter Umwelt und Technik, in dessen Büro trifft, ist die Bewertung unmissverständlich. „Die Stadt Bergisch Gladbach steht an der Seite des israelischen Volks, das von verbrecherischen Angriffen der Hamas heimgesucht wurde“, so steht es auf der Seite der Städtepartnerschaft „Ganey Tikva Bergisch Gladbach e.V.“, so sagen es die Männer hier. Nach den Anschlägen hat man eine israelische Fahne ans Rathaus gehängt – aus Solidarität. Sie hängt dort nicht lange. Die Polizei findet die angekokelten Reste, der Staatsschutz ermittelt. Eine neue Flagge ist laut Stadtverwaltung bereits bestellt.
Die Zerreißprobe: Freunde hat Bergisch Gladbach auf beiden Seiten
Der Nahostkonflikt wirft gerade in diesen Tagen seine sich ineinander verkeilenden Fangarme aus bis nach Bergisch Gladbach. Das Dilemma offenbart sich in dieser Stadt auf eine besonders deutliche Weise. Denn Bergisch Gladbach ist eine der wenigen deutschen Städte, die eine Partnerschaft sowohl zu einer israelischen als auch einer palästinensischen Stadt pflegen. Mehr noch: Wunsch der Stadt war immer, aus den Bündnissen eine trilaterale Freundschaft erwachsen zu lassen.
Zugegeben: Es ist eher ein Winkel als ein Dreieck, die Verbindung Israel-Palästina ist brüchig und seit dem 7. Oktober quasi ausradiert. In den Trümmern: Die Schenkel, die Bergisch Gladbach auf der einen Seite mit Ganey Tikva, auf der anderen mit Beit Jala verbinden. Sie will man stabil halten. Und das hat zur Folge: Bergisch Gladbach hat israelische Freunde in Ganey Tikva. Bergisch Gladbach hat palästinensische in Beit Jala im Westjordanland. Um beide sorgt man sich. Ein Drahtseilakt, nicht erst, aber besonders in diesen Tagen. Damit umzugehen, kann zur Zerreißprobe werden. Auch tausende Kilometer vom Gazastreifen entfernt.
Ganey Tikva liegt gerade mal eine gute Autostunde vom 360 Quadratmeter großen Gazastreifen am Mittelmeer entfernt. Knapp 20.000 Einwohner, unweit von Tel Aviv. Der 84-Jährige Zwi, Holocaustüberlebender und noch zu Beginn des Jahres zu Gast in Bergisch Gladbach, lebt dort in einem Seniorenheim. Seine Antwort auf Urbachs Textnachricht trudelt nur Minuten später mit einem Pling auf dem Kreuzfahrtschiff vor der Küste Griechenlands ein. Er berichtet von Raketenalarm und davon, dass er in einen Bunker fliehen musste. Er schickt ein Bild eines kleinen Raketenkraters in seiner Straße. Er klafft vor der Nummer 16. Zwi selbst lebt in der Fünf. Immerhin: Abgesehen davon sei alles in Ordnung. Niemand aus der Verwandtschaft sei im passenden Alter für das Militär. „Ich war mit meinen Lieblingsmenschen, meiner Frau und den Kindern, an einem wunderschönen Ort, das Wetter war toll, das Essen hervorragend. Und gleichzeitig erhielt ich diese Schreckensnachrichten. Das war ein fürchterlicher Kontrast“, sagt Urbach. Aber Zwi winkt ab. Er solle kein schlechtes Gewissen wegen seiner Urlaubsreise haben. Er selbst sei bis vor wenigen Tagen mit seiner „lady-friend“ noch im östlichen Mittelmeer unterwegs gewesen. Familie, so beteuert man sich gegenseitig, sei gerade in diesen Zeiten der wichtigste Halt.
„Die Hamas ist zu weit gegangen. Sie hat damit der palästinensischen Sache einen Bärendienst erwiesen.“
Beit Jala liegt im besetzten Westjordanland. Rund 12.000 Einwohner, in der Mehrzahl christlich. Seit 2016 durchschneidet ein acht Meter hohes Teilstück der israelischen Sperranlage die Stadt. Dekker zerreißt es, wenn er an die Begegnungen noch Ende September dort denkt. Er schreibt an seinen palästinensischen Kontaktmann Mohammed, der in Beit Jala mit seiner Familie in einer Flüchtlingsunterkunft wohnt und dort als stellvertretender Verwaltungschef eines kleinen Hotels arbeitet. Er textet Nachrichten an Issa aus der Stadtverwaltung von Beit Jala. Er äußert Sorge. Er schreibt auch. „Die Hamas ist zu weit gegangen. Sie hat damit der palästinensischen Sache einen Bärendienst erwiesen.“ Issa antwortet, das israelische Militär habe nun alles abgeriegelt, in den ersten Tagen sei die Versorgung mit Lebensmitteln schwierig gewesen, es stehe zu befürchten, dass der Stadt bald das Geld für die Löhne ausgehe. „Die Bürger haben das Zahlen ihrer Gebühren eingestellt.“
Auch Urbach steht im Kontakt. Per Whatsapp versucht er Mohammed davon zu überzeugen, dass einige Meldungen, die er verbreitet, falsch sind. „Nach Recherchen von vor Ort kam die Rakete, die im Krankenhaus einschlug, gar nicht von den Israelis. Was in den Videos außerdem gar nicht erwähnt wird, ist die terroristische Attacke der Hamas auf unschuldige Menschen am 7. Oktober.“ Mohammed schreibt: Betet für uns! Auf die Verurteilung der Taten der Hamas gehen weder er noch Issa ein.
Bergisch Gladbach wandert schon seit zwölf Jahren zwischen den Welten. Nachdem man als eine der ersten Städte Deutschlands eine Partnerschaft mit einer palästinensischen Stadt eingegangen war, versah der Ältestenrat Bergisch Gladbachs die Verbindung zu Beit Jala mit dem Wunsch „auch eine Partnerschaft mit einer Stadt in Israel – ggf. in einem Dreiecksverhältnis mit Beit Jala – anzustreben“. Ganey Tikva schickte daraufhin quasi eine Initiativbewerbung. Man freue sich und sei zu einer trilateralen Beziehung bereit.
Die Euphorie war groß, die Wege blieben steinig. Eine Einladung von Vertretern beider Städte zum Stadtfest 2016 geriet zum diplomatischen Drahtseilakt. Ein Treffen? Für die Israelis vorstellbar. Für die Palästinenser undenkbar. Einige extreme palästinensische Kräfte fuhren eine Antinormalisierungskampagne. Zusammentreffen mit Israelis waren unerwünscht. Wer doch den Kontakt suchte, dem drohte der Verlust seiner Arbeit, man lief Gefahr, öffentlich angeprangert zu werden. Auf keinen Fall dürfe es Fotos geben.
Als der Sohn eines Palästinensers starb, kondolierte die Israelin
Und dann? Sei es doch zu einem gemeinsamen Abendessen im Ristorante Il Mirto an der Buchmühle gekommen. „Schon am zweiten Abend haben sich alle zur Begrüßung umarmt“, sagt Urbach glücklich. Fotos, wenn auch nicht in sozialen Medien, habe es schließlich auch gegeben. Kann aus der Zange doch ein Dreieck erwachsen? Schon zwei Jahre zuvor, 2014, seien zwei Rollstuhl-Basketballteams aus beiden Partnerstädten zu Gast gewesen. Die Gäste aus Ganey Tikva und Beit Jala spielten in einer Mannschaft. Israel/Palästina gegen Deutschland. Im März 2023 legt der Vorsitzende des Beit Jala-Vereins, Stephan Dekker zusammen mit Urbach und dem Bürgermeister Bergisch Gladbachs drei Kränze in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nieder. Die zugleich traurigste und schönste Geschichte die ihren Anfang auf Gladbacher Boden nahm: Als der Sohn eines palästinensischen Bürgermeisters ums Leben kam, machte sich eine israelische Freundin aus Ganey Tikva auf, ignorierte alle Warnschilder und marschierte nach Beit Jala. Um zu klingeln und zu kondolieren. Bei einem trauernden Vater.
Dass das Wandeln zwischen den Welten auch in Frieden lebende Bergisch Gladbacher in den Streit abrutschen lassen kann, wissen Urbach und Dekker allerdings auch. Durch die gleichzeitige Partnerschaft mit einer palästinensischen Stadt komme es zu „Israelfeindlichkeiten“, warfen einige Mitglieder des Vereins Ganey Tikva vor fünf Jahren dem damaligen Bürgermeister Urbach vor. Höhepunkt des Eklats im Jahr 2018: Auf dem Programm stand eine gemeinsame Veranstaltung beider Vereine mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Niedersachsen und dem Vorsitzenden der Palästinensischen Gemeinde in Hannover. Schon die Pressemitteilung des Bürgermeisterbüros zur Veranstaltung habe „israelkritische Passagen“ enthalten, so die Kritik. Unter der Zwischenüberschrift „Persönliches Leid verbindet“ firmierte dann sowohl die Holocaust-Erfahrung der jüdischen Familie wie die Flucht des Palästinensers nach Beirut. Hier würden Shoa und Nakba, die Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinensern 1948, in einen unzulässigen Vergleich gestellt. Der Beit-Jala-Verein leiste damit dem Antisemitismus Vorschub, beschwerte man sich. Urbach, der sich seit Jahren für die israelisch-deutsche Freundschaft einsetzt, reagierte empört und wies alle Vorwürfe von sich. Er sehe es als seine Aufgabe an, Brücken zwischen Menschen zu bauen, nicht Weltpolitik zu betreiben. Urbach verließ den Verein und gründete als Bürgermeister kurzerhand einen neuen. Die Abordnung aus Ganey Tikva sei ihm gefolgt.
Aber der Zwiespalt klebt an seinen Schuhen. Gerade jetzt in den Tagen des Krieges mache man sich beispielsweise Gedanken, wie die jährliche Gedenkveranstaltung an der Villa Zander zur Reichspogromnacht ablaufen solle. Einig ist man sich, dass man den Terror der Hamas an diesem Abend scharf verurteilen will. Möglicherweise mit einem Schweigemarsch für die Opfer im Anschluss an das für sich stehende Gedenken an die Reichspogromnacht. Wichtig ist es Urbach, beides keinesfalls zu vermischen.
Noch zu diskutieren bei der kommenden Vorstandssitzung am 2. November: Schließt man alle zivilen Opfer in sein Gedenken ein? Sagt man also auch den Satz „Wir gedenken der zivilen Opfer auf beiden Seiten“? Lutz Urbach hat eine Tendenz. Aber die Fallrichtung ist nicht eindeutig. Es zieht von beiden Seiten. „Ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die sich da für die andere Seite entscheiden. Und dafür habe ich Verständnis.“ Stefan Dekker will als Vorsitzender des Beit-Jala-Vereins die palästinensischen Opfer nicht unerwähnt lassen. „Wenn unschuldige Zivilisten ums Leben kommen, dann muss man meiner Meinung nach nicht nach Nationalitäten trennen.“ Aber ein Erinnern an palästinensische Opfer am Gedenktag zur Reichspogromnacht? In Deutschland? Schwierige Lage.
Lange gebrütet hat Urbach auch über eine jüngst verschickte Mail an den Holocaustüberlebenden Zwi aus Ganey Tikva. Er versichert gleich im Einstieg, alle Gedanken und Herzen seien bei den Israelis. Er spricht von einer unerträglichen Situation, der Hamas-Attacke auf seine Freunde in Israel. Und dann tut er es doch, vielleicht aus Zerrissenheit, vielleicht einfach aus Ehrlichkeit: Er schreibt von Mohammed, einem Palästinenser, einem „sehr freundlichen Mann“ den er über die Städtepartnerschaft seit 15 Jahren kenne und der mit seiner Familie im Flüchtlingscamp in Beit Jala lebe. Und dass auch dieser unter der Situation leide. „Es scheint keine Gewinner in dieser Situation zu geben. Nur Traurigkeit, Tod und Kummer.“ Urbach schließt mit den Worten: Für dich und deine Lieben wünsche ich von ganzem Herzen das Beste. Und ich wünsche dasselbe für Mohammed und seine Familie.“
Die Antwort aus Israel: Getragen vom Wunsch nach Frieden
Urbach legt den Brief an Zwi weg, den er extra ausgedruckt und aus dem er gerade vorgelesen hat. In seine Stimme hat sich eine Spur von Unsicherheit geschlichen. Nach einem Terror-Angriff einer Organisation, die das israelische Volk auslöschen will, hat er, ein Deutscher, einen Brief an einen Holocaust-Überlebenden geschrieben, in dem er auch von Freunden auf der anderen Seite spricht. Kann man das machen? Ist das relativierend? Urbach ringt mit sich. „Ich liebe diese beiden Menschen. Und ich weiß, dass sie sich mögen würde. Aber vielleicht bin ich in dieser Situation zu weit gegangen. Vielleicht ist Zwi sauer und schreibt mir nie wieder.“
Keine 48 Stunden später plingt auf Urbachs Rechner in Bergisch Gladbach die Antwort auf. Absender Zwi, Ganey Tikva. Es ist eine kluge, eine warmherzige Mail. Getragen vom Wunsch nach Frieden. Er schließt mit der Bitte an Urbach, seinen Freunden in Beit Jala auszurichten: Nicht alle Israelis hassen Palästinenser.