Penicillin ist aus. Diesen Satz hören Eltern kranker Kinder in Apotheken gerade häufig. Das Land ergreift erste Maßnahmen. Aber wird das die Lage entspannen?
„Situation katastrophal“Antibiotika-Mangel in Nordrhein-Westfalen ist gravierend
Nachts um halb zwei, nach mehreren Stunden Aufenthalt in der Kinder-Notfallambulanz der Uniklinik Köln. Das Kind weint vor Schmerzen und ist schon ganz matt. Diagnose: Scharlach. Nun braucht es dringend Penicillin, um den Bakterien Einhalt zu gebieten. Anruf bei der nächstgelegenen Notapotheke, die Apothekerin klingt bedrückt. Nein, das verschriebene Medikament sei nicht vorrätig, sagt sie. Und auch nicht lieferbar, seit mehreren Wochen schon nicht. Auch in den nächste drei Apotheken dasselbe Problem. Penicillin? Haben wir nicht da.
Dann ein Lichtblick: Eine Apothekerin findet eine Flasche mit dem Saft – allerdings in anderer Dosierung. Also wieder zurück in die Uniklinik, um ein neues Rezept zu holen. Dann geht es mit dem Auto einmal quer durch die Kölner Innenstadt. Die Apothekerin hat versprochen, das Penicillin zurückzulegen, zur Sicherheit.
NRW lockert Einfuhr-Regeln bei Antibiotika-Säften für Kinder
Derlei Szenen wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Die medizinische Grundversorgung von Kindern galt als sicher. Dass lebenswichtige Medikamente wie Antibiotika nicht lieferbar sein könnten, damit hat wohl kaum jemand gerechnet, weder in Köln, noch in ganz Deutschland. Doch solche Erfahrungen wie die oben beschriebene, gehören derzeit für Eltern mit kranken Kindern zum Alltag. Um die Lage zu entspannen, lockert NRW nun die Einfuhr-Regeln bei Antibiotika-Säften für Kinder. Man habe „alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet“, um Medikamente aus Drittstaaten erhalten zu können, so das Gesundheitsministerium. Man habe „bereits die zuständigen Behörden sowie die Apothekerverbände und Apothekerkammern über diese Möglichkeit in Kenntnis gesetzt und sie aufgefordert, jetzt alle Optionen, die mit der Feststellung des Versorgungsmangels einhergehen, zu nutzen. Es gilt jetzt zügig und konsequent zu handeln, um die Versorgungslage zu verbessern“, antwortet das Gesundheitsministerium NRW auf Anfrage dieser Zeitung. Auch Bayern, Bremen und Baden-Württemberg wollen die Maßnahme umsetzen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
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Wie ernst ist die Lage?
Die Versorgungslage bei Arzneimitteln ist Kinder- und Jugendärzten zufolge kritisch. Axel Gerschlauer, Kinder- und Jugendarzt in Bonn und NRW-Sprecher des Bundesverbands, sagte im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Die Situation ist katastrophal, man kann das nicht beschönigen.“ Gerschlauer spricht von einem „gesundheitspolitischen Vollversagen“, vor dem man schon seit Anfang Herbst vergangenen Jahres warnte. „Wir reden uns den Mund fusselig, und erst wenn wirklich mal jemand dran stirbt, weil er nicht versorgt wird, dann guckt vielleicht mal einer hin.“
Ähnlich alarmiert äußerten sich vor wenigen Tagen Mediziner aus mehreren europäischen Ländern in einem Brief an ihre Gesundheitsminister. „Die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen ist durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet. Eine schnelle, zuverlässige und dauerhafte Lösung ist dringend erforderlich!“, heißt es in dem Schreiben.
Laut Thomas Preis vom Apothekerverband Nordrhein herrscht in den Apotheken längst nicht nur ein Mangel an Antibiotika für Kinder. Antibiotika seien auch für Erwachsene knapp. „Das ist auch der Grund, warum in den Apotheken kein Kindersaft aus Tabletten hergestellt werden kann. Auch Tabletten werden viel zu wenige geliefert.“ Auch bestimmte Blutdruckmedikamente sowie Insulin seien mittlerweile schwer aufzutreiben.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte listet seit dem Herbst 2022 vermehrt Lieferengpässe von Antibiotika auf. Der Absatz beispielsweise bei Amoxicillin oder Penicillin übersteigt den Daten zu Folge seit Ende vergangenen Jahres den Einkauf immer wieder und seit Anfang 2023 in gehäufter Weise.
Welche Folgen hat der Mangel?
„Wir behandeln Kinder mit Antibiotika, die wir normalerweise nicht benutzen würden, weil sie zu breit sind. Das heißt, es gibt ein größeres Risiko für Nebenwirkungen und die Gefahr der Resistenzbildung“, sagt Axel Gerschlauer. Es käme seiner Aussage zufolge auch vor, dass Kinder, die eigentlich nur einen Antibiotikasaft bräuchten, aus Ermangelung desselben eine Woche im Krankenhaus verbringen müssten, wo ihnen das Medikament dann intravenös verabreicht werden könnte.
Was bedeutet nun eine Lockerung der Einfuhrregeln genau?
Behörden können es so möglich machen, ein Medikament aus europäischen Ländern oder Drittstaaten, das keine deutsche Verpackung hat, von Apotheken hierzulande ausgeben zu lassen. Möglich macht dies eine Bekanntmachung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) im Bundesanzeiger, wonach derzeit ein Versorgungsmangel bei antibiotikahaltigen Säften für Kinder besteht. Das Gesundheitsministerium NRW betont auf Anfrage dieser Zeitung, die Sicherheit der Patientinnen und Patienten stehe immer im Vordergrund. Die eingeführten Antibiotika müssten deshalb „wirksam und unbedenklich sein sowie eine hohe pharmazeutische Qualität aufweisen“. Weitehrhin bedürfe der Import der Gestattung durch Kreise oder kreisfreier Städte beziehungsweise der Bezirksregierung.
Wird diese Maßnahme die Lage entspannen?
Thomas Preis vom Apothekerverband Nordrhein glaubt das nicht. „Die Chance in anderen Staaten Ware zu bekommen, halte ich für sehr gering.“ Zugrunde liege nämlich ein strukturelles Problem, das nicht auf Deutschland beschränkt sei, sondern in ganz Europa vorliege. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinproduktion bestätigt diese Einschätzung. In engmaschigem Austausch mit anderen Staaten, sowohl in Europa als auch außerhalb, sei eine Einschränkung der Verfügbarkeit auch dort festzustellen. Die Möglichkeit des Bezugs von Arzneimitteln zur Kompensation aus diesen Staaten sei deshalb als „stark begrenzt“ einzuschätzen. Auch das Gesundheitsministerium sagt auf Anfrage dieser Zeitung, die Flexibilisierung könne zur Entspannung der Lage beitragen, löse den Lieferengpass aber nicht ursächlich. Auch im Ausland liege „in der Regel keine Überversorgung“ vor.
Wie konnte es zu den Lieferengpässen kommen?
Die Ursachen für Lieferengpässe bei Arzneimitteln seien vielfältig, heißt es vom Bundesministerium. Es wies etwa auf Engpässe bei Grundstoffen oder Produktionsprobleme hin. Thomas Preis vom Apothekerverband Nordrhein wittert den Grund auch hinter der fehlenden Rentabilität. Die Hersteller haben sich seiner Auskunft nach aus der Produktion vieler Basismedikamente zurückgezogen. „Die Preise, die für Antibiotika erzielt werden können, sind sehr niedrig, oft nur ein paar Cent. Das ist im Vergleich zu hochinnovativen Produkten wie bestimmten Krebs- oder antiviralen Medikamenten, wo eine Tablette mehrere hundert Euro kosten kann, einfach nicht so lohnenswert.“
Der GKV-Spitzenverband gibt der Pharmabranche eine Mitschuld. Man habe Lieferketten mit Produktionsstätten im Ausland aufgebaut, die sich jetzt als instabil erwiesen. Laut Bundesgesundheitsministerium finden bei bestimmten Arzneimitteln mit Antibiotika inzwischen mehr als 60 Prozent der Wirkstoffproduktion in Asien statt, doppelt so viel wie vor zwanzig Jahren.
Der stellvertretende Geschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Landesverband NRW, Uwe Wäckers, gibt im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ den Vorwurf an die Krankenkassen zurück und kritisiert vor allem deren unter extremem Spardiktat entstandene Rabattverträge. „Die Pharmahersteller sichern den Krankenkassen dabei hohe Rabatte zu, die Krankenkassen im Gegenzug, dass ihre Patienten im Normalfall nur mit diesem Medikament versorgt werden. Wer da den höchsten Rabatt bietet, kauft sich in den Markt ein. Die mittelständischen Familienunternehmen, die in Europa produzieren, können da oft nicht mithalten. Und wenn die Firmen, die zum Beispiel in Asien produzieren, dann Lieferprobleme haben, können die Europäer auch nicht einfach schnell einspringen“, so Wäckers. Viele mittelständische Arzneimittelhersteller seien auf diese Weise aus dem Markt gedrängt worden oder hätten diesen freiwillig verlassen - eine Rückgewinnung sei ungleich schwerer und langwieriger.
Auch das Gesundheitsministerium NRW sagt gegenüber dieser Zeitung, „die gegenwärtigen Marktmechanismen in der Arzneimittelversorgung speziell in Deutschland haben sich in den letzten 20 Jahren zu Gunsten der Wirtschaftlichkeit und zu Ungunsten der Versorgungssicherheit entwickelt“. Aktuell sei man sehr abhängig von Arzneimittelproduktionen in Drittstaaten.
Die hausgemachte Grundproblematik habe sich nach Meinung Preis‘ durch widrige Begleiterscheinungen noch verschärft: Hinzu käme eine starke Infektionswelle nach dem Ende der Corona-Pandemie, die die Pharmaindustrie weitgehend unvorbereitet getroffen habe. Dazu ein Fachkräftemangel sowie steigende Energiekosten und hohe Inflation.
Wie ist der Plan für die Zukunft?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verweist in einem Twitter-Tweet auf ein Gesetz der Ampel, das Anfang April auf den Weg gebracht, aber noch nicht beschlossen wurde. Es soll Herstellern ermöglichen, höhere Abgabepreise für Kindermedikamente in Deutschland zu verlangen, so dass sich Lieferungen nach Deutschland mehr lohnen. Rabattverträge sollen bei Arzneimitteln für Kinder nicht mehr angewendet werden. Bei wichtigen Medikamenten ist auch eine Pflicht zur mehrmonatigen Lagerhaltung vorgesehen. Und bei Antibiotika sollen Hersteller, die Wirkstoffe in Europa produzieren, stärker zum Zug kommen. Uwe Wäckers vom VCI geht das noch nicht weit genug: „Wir als Verband fordern, dass die Rabattverträge auch bei Medikamenten für Erwachsene immer auf drei Produzenten ausgeweitet werden und davon verpflichtend mindestens einer in Europa produzieren muss. So würden wir die Liefersicherheit für Medikamente enorm erhöhen.“
Um die Versorgungssicherheit zu verbessern, möchte das Gesundheitsministerium NRW sich dafür einsetzen, „dass bei allen Verträgen der gesetzlichen Krankenkassen zu Arzneimitteln europäische Produktionsstandorte besondere Berücksichtigung finden und dass insgesamt die Produktion von Arzneimitteln in Deutschland und Nordrhein-Westfalen gestärkt sowie wirtschaftlich attraktiv bleibt“. Auf diese Weise wolle man erreichen, Produktionsstandorte „endlich zurück nach Europa, Deutschland und Nordrhein-Westfalen“ zu holen.
Für Thomas Preis vom Apothekerverband Nordrhein lässt sich der Krise nur durch ein beherztes Eingreifen der Regierung beikommen. „Der Staat muss selbst eintreten und genügend Mittel plus Reserve aufkaufen. So hat das der Staat auch bei Grippeimpfungen vor einigen Jahren gemacht. Dann haben die Hersteller einen sicheren Abnehmer und der Staat kann seine Ware in den Markt geben, wenn ein Medikament knapp wird.“
So sieht es auch Mediziner und Verbandssprecher Axel Gerschlauer, der sagt, die Kinder- und Jugendärzte hätten schon im Herbst ein solches Depot gefordert: „Wir müssen die Medikamente einkaufen und lagern, damit wir sie dann verteilen können.“