Kalifat-Rufe, Islamisten-Banner: Die Essener Demo wirft viele Fragen auf. Die wichtigsten politischen und juristischen Antworten im Überblick.
Ermittlungen und LandtagsdebatteKonsequenzen nach Islamisten-Aufmarsch bei Pro-Palästina-Demo in Essen gefordert
Nach der als propalästinensisch angemeldeten Demonstration in Essen hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Volksverhetzung gegen einen Redner der Kundgebung eingeleitet. Es werde geprüft, ob dieser bei der Verlesung der beschränkenden Verfügungen beleidigende Inhalte geäußert habe, teilte die Essener Polizei am Montag mit. Der polizeiliche Staatsschutz ermittelt.
Bei der friedlich verlaufenden Demonstration am Freitag mit rund 3000 Teilnehmern waren neben palästinensischen Symbolen auch Zeichen gezeigt worden, die den verbotenen Symbolen der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat und der radikalislamischen afghanischen Taliban ähnelten. Teilnehmer forderten die Gründung eines Kalifats, die Polizei hatte am Wochenende von einer „islamreligiösen Versammlung“ gesprochen.
NRW-Innenminister Reul: „Ein derart deutliches Werben für islamistische Ziele auf offener Straße war bisher in NRW nicht feststellbar“
„Ein derart deutliches Werben für islamistische Ziele auf offener Straße war bisher in NRW nicht feststellbar“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU). Auf Essens Straßen seien Menschen unterwegs gewesen, „die radikal islamistisches Gedankengut verbreiten und ein streng religiöses Reich errichten wollen“. Solche „unfassbaren Szenen“ habe es in Nordrhein-Westfalen „zum ersten Mal“ gegeben.
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Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte die Zustände bei der Demonstration „unerträglich“. Wer Freiheitsrechte derart missbrauche, um Straftaten und Hass zu propagieren, könne sich nicht auf den Schutz der Meinungsfreiheit berufen. Faeser sagte: „Diese Linie muss unser Rechtsstaat konsequent durchsetzen: mit Versammlungsverboten, wenn antisemitische und islamistische Hetze droht, und hartem polizeilichen Einschreiten.“
Auch Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) zeigte sich empört: „Nur schwer erträglich. Islamisten, Antidemokraten und Judenhasser ziehen geschützt durch das deutsche Grundgesetz durch Essen“, erklärte Kufen am Montag. „Den Initiatoren ging es offensichtlich weniger um das Leid der Menschen im Gaza-Streifen, sondern viel mehr um die Verbreitung radikalislamistischer Parolen.“
Aus den Vorgängen ergeben sich viele politische und juristische Fragen, die wichtigsten beantworten wir hier.
Wie weit reicht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit?
Träger des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit sind nach Artikel 8 des Grundgesetzes nur Deutsche, erklärt Michael Bertrams, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Staatsangehörigkeit können sich aber für Demonstrationen auf Artikel 2 des Grundgesetzes berufen, der jedem Menschen allgemeine Freiheitsrechte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert.
Hätte man die Essener Demo verbieten müssen?
Diese Position vertritt die SPD im nordrhein-westfälischen Landtag. „Wo ist die Null-Toleranz-Politik des Innenministers, wenn es darum geht, Demonstrationen wie die in Essen sofort zu verbieten?“, fragt SPD-Innenexperten Christin Kampmann. Die Landesregierung dürfe sich „nicht auf der Nase herumtanzen“ lassen: „Sie muss jetzt das klare Zeichen setzen: Bis hierhin und nicht weiter.“ Es brauche jetzt schnelle Verfahren, konsequente Strafverfolgung und eindeutige Auflagen mit harten Folgen bei Zuwiderhandlung.
Können anti-israelische Demonstrationen in Deutschland überhaupt verboten werden?
Die Erklärungen der amtierenden Bundesregierung und zuvor schon der früheren Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson schaffen für sich genommen keine versammlungsrechtlichen Sonderregeln. Das bedeutet, dass Demonstrationen, die sich zum Beispiel gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen richten, nicht verboten oder mit besonderen Auflagen belegt werden könnten. Kritik an Israel müsse möglich sein, erklärt Michael Bertrams.
„Im Land des Holocausts heute wieder hasserfüllte israelfeindliche Demonstrationen erleben zu müssen, ist schwer zu ertragen. Doch das Versammlungsrecht ist ein wichtiges Minderheitenrecht und zeichnet sich durch Staatsferne aus.“ Das bedeutet unter anderem, dass Demonstrierende nicht verpflichtet sind, staatliche Positionierungen zu übernehmen. Auch politisch unerträgliche Parolen – ob auf Transparenten, in Reden oder Sprechchören – müssen hingenommen werden.
Was rechtfertigt eine Versammlungsbeschränkung oder gar ein Demonstrationsverbot?
Eine Versammlung oder Demonstration kann nur beschränkt oder verboten werden, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Artikel 8 des Grundgesetzes erlaubt Demonstrationen ausdrücklich unter der Voraussetzung, dass sie „friedlich und ohne Waffen“ stattfinden. Das bloße Rufen aggressiver Parolen macht eine Demo noch nicht unfriedlich. Michael Bertrams: „Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann man mit Worten grundsätzlich nicht unfriedlich sein.“
Eine Grenze zieht hier allein das Strafrecht. Verboten sind zum Beispiel die Leugnung des Holocaust oder Hassparolen gegen Juden, die den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen (Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs StGB). Verboten sind außerdem der Aufruf zu Straftaten, etwa zur Gewalt, und auch die Billigung von Straftaten – wie zum Beispiel des brutalen Überfalls der Terrororganisation Hamas auf Israel und deren Geiselnahmen.
Bei auslegungsbedürftigen Inhalten muss nach der – wie Bertrams findet, problematischen - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diejenige Interpretation unterstellt werden, die den Inhalt nicht strafbar macht. Beispiel: Schließt die Parole, Palästina solle „frei vom Fluss bis zum Meer“ sein, die Auslöschung des Staates Israel ein? Handelt es sich hier lediglich um eine (missliebige politische) Meinungsäußerung zum Existenzrecht Israels? Oder soll damit die Forderung der Hamas, Israel zu vernichten, zum Ausdruck gebracht werden. Dann wäre die Parole ein Aufruf zur Gewalt und damit strafbar.
Karlsruhe hat sich bislang generell für die Regel „Im Zweifel für die Meinungsfreiheit“ entschieden. „In dieser – wie ich finde, problematischen Rechtsprechung sehe ich die Gefahr begründet, dass Versammlungen von Demagogen und Hetzern missbraucht werden“, sagt Bertrams.
Können Transparente, Plakate oder Parolen mit fremdsprachigen – und daher für die Polizei schwerer entzifferbaren – Inhalten verboten werden?
Für ein Verbot gibt es derzeit keine Rechtsgrundlage. Gegner einer Gesetzesverschärfung argumentieren, es gebe bei den Ordnungs- und Sicherheitsbehörden inzwischen ausreichend Personal mit den erforderlichen Sprachkenntnissen. Ob das für die polizeiliche Begleitung von Großdemonstrationen gilt, darf bezweifelt werden.
Greift das Vermummungsverbot, wenn auf solchen Demonstrationen mutmaßlich muslimische Frauen in Vollverschleierung mitmarschieren?
Vermummungsverbote sind kein Wert an sich, sondern haben einen ganz bestimmten Zweck: Sie dienen der Gefahrenabwehr und der erleichterten Aufklärung etwaiger Straftaten. Das Tragen eines Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum aus religiösen Gründen ist in Deutschland – anders als zum Beispiel in Frankreich - nicht verboten. Deshalb gibt es keine rechtliche Handhabe, den Schleier im Rahmen von Demonstrationen als verbotene Vermummung einzustufen und deshalb zu untersagen. Michael Bertrams hält „die Wehrhaftigkeit des Staates mit Rücksicht auf multikulturelles Leben in Deutschland an dieser Stelle für geschwächt“.
Können aus bereits stattgefundenen Demos Folgerungen für das Verbot künftiger Demos gezogen und dann zum Beispiel auch Verbote erlassen werden?
Grundsätzlich kommt das Verbot einer Versammlung auch in Betracht, wenn mit Blick auf gewaltsam verlaufene Demos in der Vergangenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut mit einem gewaltsamen Verlauf zu rechnen ist. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hat aber grundsätzlich die Versammlungsfreiheit Vorrang. Das Argument der Karlsruher Richter: Wenn es auf einer Demo erneut zu Verstößen kommt, kann sie immer noch aufgelöst werden.
Können Straftäter nachträglich identifiziert werden?
Das ist problematisch. Auf Videoaufnahmen können nur Demo-Teilnehmer identifiziert werden, die dem Staatsschutz bereits als Extremisten bekannt sind. Die Bereitschaftspolizei verfügt über spezielle Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, allerdings ist unklar, in welcher Stärke die im Einsatz waren.
Gibt es nach der Essener Demo bereits konkrete Ermittlungen?
Ja. Gegen einen Redner wurden Ermittlungen wegen des Verdachts der Volksverhetzung aufgenommen. Julia Höller, innenpolitische Sprecherin der Grünen, begrüßt die Entscheidung: „Uns allen muss bewusst sein, dass Antisemitismus ein Problem in allen Milieus und in der gesamten Gesellschaft ist und es deshalb eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus braucht.“
Die Essener Polizei teilte am Montag auch mit, dass sich der Verdacht, das Motiv einer Pro-Palästina-Versammlung sei nur vorgeschoben gewesen, nicht bestätigt habe. Palästina sei in allen Reden - wie vom Anmelder angegeben - das rahmende Thema gewesen, sagte ein Polizeisprecher. Allerdings seien auch religiöse Themen zur Sprache gekommen.
Wie erfolgt nun die politische Aufarbeitung?
Am Donnerstag kommt der Innenausschuss des Landtags um 13.30 Uhr zu seiner 23. Sitzung zusammen. Nach Informationen unserer Zeitung wird NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) dort eine Bilanz zum Polizeieinsatz vorlegen – der Bericht wird derzeit vorbereitet. Reul steht für eine „Null-Toleranz-Linie“. Der Politiker aus Leichlingen wird erklären müssen, ob die Polizei bei dem Einsatz gut aufgestellt war.
Kevin Gniosdorz, Chef der Jungen Union in NRW, fordert: „Verstöße gegen Auflagen müssen die konsequente Auflösung der Versammlung zur Folge haben. Zudem müssen Auflagen für ähnliche Versammlungen in der Zukunft noch viel enger gefasst werden.“
„Die offene Zurschaustellung antisemitischer und staatsfeindlicher Positionen muss mit voller Härte des Rechtsstaats beantwortet werden“, fordert Marc Lürbke, Innen-Experte der FDP. In Essen sei versucht worden, unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit islamistische Propaganda zu verbreiten. „Wir brauchen hier viel mehr klare Kante. Es gilt, die Radikalen und Straftäter zu identifizieren und Beweismittel konsequent zu sichern. Wir müssen zeigen, dass wir kriminelle Verfassungsfeinde auch vor Gericht stellen. Auch Ableger der verbotenen pan-islamistischen Vereinigung ‚Hizb ut-Tahrir‘ sollten verboten werden“, sagte Lürbke.