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Interview

SPD-Chef Lars Klingbeil
„Minister oder Ministerinnen müssen in der Lage sein, ihre Probleme selbst zu lösen“

Lesezeit 8 Minuten
03.05.2024, Köln: Lars Klingbeil ist Parteivorsitzender der SPD im Bundestag. Foto: Arton Krasniqi

SPD-Chef Lars Klingbeil beim Gespräch in der Redaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“

SPD-Chef Lars Klingbeil spricht über Zustand und Wahrnehmung der Regierungskoalition, die Unterstützung der Ukraine und die Europawahl.

Herr Klingbeil, in Ihrer Freizeit betreiben Sie Kickboxen. Das ist prima zum Abreagieren. Gibt es jemanden aus der Politik, den oder die Sie beim Trainieren speziell vor Augen haben?

Nein, das käme mir nicht in den Sinn. Ich bin ein Mensch, der Gewalt ablehnt. Aber es stimmt, die Herausforderungen sind nicht gering, und manchmal ist es sehr frustrierend. Da ist der Sport ein gutes Mittel, gelassen in den Tag zu gehen.

Es wird Sie nicht überraschen, dass wir sonst auf FDP-Chef Christian Lindner getippt hätten. Wie schwierig ist es gerade mit ihm in den Haushaltsverhandlungen?

Ich erwarte, dass der Finanzminister bis Juli einen beschlussfähigen Haushalt vorlegt. Die Verhandlungen sollten sich nicht über die Sommerpause hinziehen. Bis dahin ist es für Lindner eine Herkules-Aufgabe. Für mich als SPD-Vorsitzender gibt es Grenzen, über die wir beim Haushalt nicht hinausgehen werden. Einschnitte bei den Ausgaben für Sicherheit gehören dazu oder auch Kürzungen bei den Renten. Das geht als Vorschlag auf dem FDP-Parteitag. Das geht aber nicht mit uns in der Regierung.

Herkules hatte den Vorteil, ein Halbgott zu sein. Wo soll Lindner das Geld denn hernehmen, das die Ministerien nicht sparen oder sogar zusätzlich haben wollen?

Wir können im Bereich Soziales, bei der Unterstützung für die Ukraine oder auch der Förderung des Industriestandorts Deutschland nicht alles in die Knie sparen. Deshalb erwarte ich schon, dass darüber geredet wird, wie es mit der Schuldenbremse weitergeht. Wir können sie wie ein Heiligtum auf den Sockel stellen – um dann in 20 Jahren feststellen zu müssen, dass Schulen, Brücken oder Bahntrassen noch maroder sind als heute schon. Die Mängel in der Infrastruktur sind Top-Thema in jeder Bürgerversammlung. Ich finde, da müssen wir massiv mit Geld reingehen.

Ich rate allen dazu, dass wir uns auf die Gemeinsamkeiten besinnen. Alle drei Parteien wollen dieses Land modernisieren.
Lars Klingbeil

Wird der Streit mit der FDP über Kürzungen im Sozialen zum Knackpunkt für die Koalition?

Ich rate allen dazu, dass wir uns auf die Gemeinsamkeiten besinnen. Alle drei Parteien wollen dieses Land modernisieren. Wir können beim Bürokratie-Abbau noch zulegen, wir können Planungs- und Genehmigungsverfahren noch weiter beschleunigen. Selbst im Bereich Rente können wir zusammen etwas erreichen. Warum schaffen wir nicht attraktivere Bedingungen für Menschen, die dem Arbeitsmarkt auch nach ihrem verdienten Renteneintritt zur Verfügung stehen wollen? Darauf könnten wir uns in der Koalition sehr schnell einigen. Und um an mehr Geld zu kommen, hat die SPD unter anderem einen „Deutschland-Fonds“ vorgeschlagen. Es liegt unfassbar viel privates Geld ungenutzt herum. Andere Länder sind viel kreativer, wenn es um Anreize für die Investition von privatem Kapital geht.

Wie beschreiben Sie aktuell den Zustand der Koalition?

Die Ampel kreist zu sehr um sich selbst. Das habe ich oft genug gesagt. Alle müssen jetzt ihren Job machen und ihre Verantwortung wahrnehmen, dass das Land vorankommt. Da müssen wir besser werden. Ich bin fest davon überzeugt: In einer Koalition macht keine Partei politisch Geländegewinne auf Kosten der anderen. Am Ende werden alle gemeinsam bewertet, ob sie das Land vorangebracht und Probleme erfolgreich angepackt haben. Unnötiger Streit über Heizungsgesetz, Kindergrundsicherung oder Haushaltstreitigkeiten überdecken vieles, was wir gut hinbekommen haben und was uns von unabhängiger Seite – etwa von der Bertelsmann-Stiftung – auch attestiert wird.

Muss der Bundeskanzler dafür autoritärer auftreten?

Ich kenne die Forderung. Aber ich halte sie für falsch. Sie können in einer Drei-Parteien-Koalition, die es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gab, nicht darauf setzen, dass der Kanzler ständig auf den Tisch haut. An einigen Punkten – bei der Rente mit 63 – hat er das gemacht, und das war auch richtig. Aber wer Minister oder Ministerin in einer Bundesregierung sein will, muss in der Lage sein, seine Probleme selbst zu lösen und kann nicht erwarten, dass der eigene Job vom Kanzler mit Machtworten erledigt wird.

Bei ThyssenKrupp in NRW drohen Standortschließungen. Dagegen erhebt sich parteiübergreifend Protest. Was sind in einer unbestreitbaren Krise der Stahlindustrie Ihre Vorschläge?

Betriebsräte bei ThyssenKrupp sagen mir: Unser Hauptproblem sind die Energiepreise, die im Vergleich mit anderen Ländern nicht wettbewerbsfähig sind. Da müssen wir dringend etwas tun. Der Verlust der Stahlindustrie und damit von sicheren Arbeitsplätzen wäre ein Riesenschaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Angesichts der Bedeutung, die Stahl für die deutsche Wirtschaft hat, möchte ich nicht auf chinesischen Stahl angewiesen sein.

Stichwort russischer Angriffskrieg. Die Lage für die Ukraine sieht militärisch derzeit nicht gut aus. Was glauben Sie, wie lange die Verteidiger dem russischen Druck noch standhalten können?

Der Westen hat es mit verstärkten, beschleunigten Waffenlieferungen mit in der Hand, dass die Ukraine aus der momentanen Defensive auch wieder herauskommt. Angesichts des bisherigen Kriegsverlaufs mit seinen vielen Wechseln glaube ich sehr wohl, dass das gelingen kann.

03.05.2024, Köln: Lars Klingbeil ist Parteivorsitzender der SPD im Bundestag. Foto: Arton Krasniqi

Lars Klingbeil ist seit Ende 2021 an der Seite von Saskia Esken Parteivorsitzender der SPD.

Wie schätzen Sie die Bereitschaft der Menschen in Deutschland ein, die Ukraine auch weiterhin militärisch in solchem Umfang zu unterstützen?

Ich sehe diese Bereitschaft nach wie vor für groß an. Das ist auch ein Verdienst dieser Bundesregierung. Sie agiert mit Olaf Scholz an der Spitze sehr besonnen und lässt sich nicht treiben. Trotz populistischer Stimmungsmache politischer Kräfte wie der AfD oder des Bündnisses Sahra Wagenknecht, die zwar Frieden skandieren, aber damit ein Einknicken vor Putin meinen.

Mit Blick auf die Rolle der Bundeswehr ist ein Aufleben der Wehrpflicht im Gespräch. Wie stehen Sie dazu?

Ich halte nichts davon, die alte Wehrpflicht wiederaufleben zu lassen. Als es sie noch gab, hatten wir eine frappierende Ungerechtigkeit und eine Dienstzeit von zuletzt nur noch sechs Monaten. Damit wäre der Bundeswehr nicht geholfen. Aber es ist gut, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius über die Nachwuchs-Rekrutierung nachdenkt. Und ich finde, jeder junge Mensch sollte einmal im Leben die Frage beantworten, ob er einen Dienst für sein Land leisten kann.

Eine allgemeine Dienstpflicht?

Kein Zwangsdienst, aber viel mehr Beratungsangebote über den Dienst in der Bundeswehr, aber auch Möglichkeiten im sozialen oder kulturellen Bereich. Ich halte es für einen Fehler, wenn Bundesländer Soldaten nicht in Schulen lassen, damit sie mit den jungen Menschen reden können. Die Bundeswehr ist eine Armee, die vom Parlament in Einsätze geschickt wird. Sie ist Teil unserer Demokratie. Also muss sie auch in den Schulen vorkommen dürfen.

Ist das Thema „Einfrieren des Kriegs“ für Sie vom Tisch?

Um eines klar zu sagen: Fraktionschef Rolf Mützenich, auf dessen Rede im Bundestag Sie anspielen, hat nie gemeint, dass die Ukraine zu Gebietsabtretungen an Russland gezwungen werden solle. Es ging um die Frage, ob wir nicht auch über Wege hin zu Frieden diskutieren sollten, anstatt immer wieder über einzelne Waffensysteme. Ich finde das richtig, bin aber persönlich der Meinung, dass man mit Wladimir Putin im Moment nicht verhandeln kann. Er wird die US-Präsidentschaftswahl abwarten und auf einen Sieg Donald Trumps spekulieren mit irgendwelchen Deals danach.

Gemischte Signale an einen Mann wie Putin sind nie gut.

Von der Bundesregierung kommen keine gemischten Signale. Die Hälfte der europäischen Militärhilfen an Kiew kommt aus Deutschland. Das ist als Signal sehr eindeutig.

In gut einem Monat ist die Europawahl. Wie wichtig wird sie als Stimmungstest für die SPD und die Ampel?

Wichtig ist diese Wahl für die Frage: Wohin geht Europa? Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, den Rechtsruck in der EU zu stoppen. Die Spitzenkandidatin der Konservativen, Ursula von der Leyen, schließt eine Zusammenarbeit mit Rechtspopulisten im Europäischen Parlament nicht mehr aus. Das verstößt gegen den bisherigen Konsens unter den demokratischen Parteien, mit diesen Kräften keine Mehrheiten zu bilden. Gerade am Wochenende nach dem Angriff auf einen SPD-Europaabgeordneten aus Sachsen haben wir doch erlebt, dass alle Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen müssen, um die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen.

Wie blicken Sie auf das Bündnis Sahra Wagenknecht, das erstmals in Wahlen antritt und nach Aussagen der Demoskopen recht gute Chancen hat?

Bislang ist das eine Sahra-Wagenknecht-Solo-Show. Sie verspricht ins Blaue alles Mögliche. Sie steht an der Seite Putin. Sie macht Stimmung auf Kosten von Menschen mit Migrationsgeschichte. Das ist eine Mischung, mit der ich nichts anfangen kann, und ich halte sie für keine politische Kraft, der man Verantwortung in diesem Land geben sollte.

Aber immerhin ist sie eine Alternative zur Alternative.

Populismus ist nicht mit Populismus zu bekämpfen. Nach meiner Vorstellung muss der Kampf gegen die AfD aus der demokratischen Mitte geführt werden. Mit einem klaren Stoppschild gegen rechts und mit guter Politik, die die Probleme der Menschen anpackt.

Aus Ihrer Distanz zu CDU-Chef Friedrich Merz machen Sie kein Hehl. Sehen Sie ihn als Kanzlerkandidat der Union – oder doch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst?

Ich habe, behaupte ich, zu Friedrich Merz ein belastbares Verhältnis, bei allen Unterschieden in der Sache. In die K-Frage der Union mische ich mich nicht ein. 2021 war es sehr unterhaltsam, bis dann der Kandidat gefunden war. Was Wüst betrifft, sieht es für mich danach aus, dass er zu schwach ist, um sich gegen Merz durchzusetzen.