Wenige Tage vor der bevorstehenden Räumung von Lützerath haben Tausende in der Ortschaft am Sonntag gegen den Abbruch demonstriert. Die Polizei übte sich in Zurückhaltung.
Tausende folgen dem ProtestaufrufDie letzten Tage von Lützerath brechen an
Der Aufruf von Bente und Marius geht im fröhlichen Gelächter beinahe unter. „Und jetzt brauchen wir noch Freiwillige, die Polizisten spielen“, fordern die Aktionstrainer die Menschenmenge nach einer Reihe kämpferischer Ansprachen am Sonntag auf.
In spielerischer Form proben sie an der Tagebaukante den Ernstfall im Kampf um den Erhalt von Lützerath. „Hat jemand Lust, an den Blockierern rumzuzerren und sie simulativ ein bisschen zu räumen?“
Die Teilnehmer der Sitzblockade haben sich untergehakt, hocken im Schatten der Mahnwache auf quadratischen Kissen und proben den passiven Widerstand. „Wenn ihr vor dem Wegtragen durch die Polizei Päckchen macht, eure Arme unter den Beinen zusammenführt, ist es weniger schmerzhaft“, rät Birte.
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Großer Beifall für Tripod-Aufbau
„Wir sind hier, wir sind viele, haltet Euch an Klimaziele“, skandieren die Blockierer und lassen sich wegtragen. Und: „Lützi bleibt, Lützi bleibt“. Der Drei-Minuten-Aufbau eines Tripod, das einem überdimensionalen Dreibein-Stativ gleicht, in das sich ein Mensch einhängen und so mühelos eine Straße blockieren kann, wird mit großem Beifall bedacht.
Das alles hat mehr von einem Happening als von ernsthaftem Protest, inszeniert vor einer Medienwand aus Kameraleuten und Fotografen. Wenige Minuten zuvor sind mehrere Hundert Menschen, angeführt von Eva Töller und Michael Zobel, die mit ihren schon legendären Waldspaziergängen viel zur Rettung des Hambacher Forsts beigetragen haben, in dem Wendehammer angekommen, der das Ende von Lützerath markiert.
Dort treffen sie auf jene, die die Ortschaft gegen den Abbruch verteidigen wollen. Eine Hundertschaft der Polizei bleibt auf Abstand und beschränkt sich darauf, die Tagebaukante zu sichern.
Konzert von AnnenMayKantereit wegen einer Unterspülung verlegt
Selbst die Nachricht, dass ein für den Nachmittag geplantes Konzert mit der Kölner Band AnnenMayKantereit an der Tagebaukante verlegt werden müsse, weil es zu einer Unterspülung durch einen Wasseraustritt aus einem Rohr gekommen sei, sorgt nicht für Aufregung.
Obwohl erste Erkenntnisse darauf hindeuten, dass an der Leitung manipuliert worden sein könnte. „Wenn vor zehn Jahren mutige Menschen nicht in den Hambacher Wald gegangen wäre, stünden wir jetzt nicht hier“, ruft Zobel. Wieder brandet Applaus auf.
Appelle für einen Last-Minute-Stop
„Unsere Mahnwache hier ist genauso wenig verhandelbar wie die Kipppunkte in der Klimakrise“, ruft eine Aktivistin, die seit zweieinhalb Jahren in Lützerath ausharrt und der angesichts der vielen Menschen, die ihr Respekt zollen, die Stimme versagt. Dass die 110 Millionen Tonnen Kohle, die unter Lützerath liegen, nicht mehr gebraucht werden und Deutschland das Pariser Klimaabkommen bricht, wenn sie abgebaggert werden, steht für jeden einzelnen der Demonstranten hier fest.
„Selbst für eine Abfederung der sogenannten Gas-Krise sind die Kohlemengen energiewirtschaftlich nicht mehr notwendig. Lützerath ist aber auch unräumbar, weil Ende dieses Jahres das 1,5-Grad-Budget am Tagebau Garzweiler bereits verbraucht sein wird“, hat Katharina Riebe vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) am Morgen bei einer Pressekonferenz klargestellt. „Die Anderthalb-Grad-Grenze verläuft also direkt hier vor Lützerath.“
Genau deshalb sind sie hier. Wenige Tage vor der erwarteten Räumung, zu der das NRW-Innenministerium Hundertschaften der Polizei aus ganz Deutschland angefordert hat, weicht die Angst der Euphorie. „Was hier passiert, ist, dass der Staat mit viel Einsatz und Geld die Profite von RWE schützt. Aber wir schützen das Leben“, ruft Dina Hamid, Sprecherin der Initiative „Lützerath lebt“.
„Wir verteidigen Lützerath, weil wir Lützerath lieben und endlich demokratisch darüber entscheiden müssen, welchen Strom wir produzieren und wofür. Indem wir uns mit unseren Körpern dem Bagger und der Polizei in den Weg stellen, wiederholen wir das, was längst klar ist. Die Braunkohle, die dreckigste Form der Energie in unserem Strommix, muss im Boden bleiben.“
Geweihte Osterkerze mitgebracht
Paul Boutmans von der Initiative „Die Kirchen im Dorf lassen“ hat am Jahrestag eine geweihte Osterkerze aus dem Jahr 1987 mitgebracht. Am Jahrestag des Abbruchs des Immerather Doms, der am 8. Januar 2018 der Braunkohle weichen musste. Die Kerze habe den Kampf gegen die Braunkohle immer begleitet und beim ersten Gottesdienst 2020 an der Abbruchkante von Keyenberg und wenig später bei einer Messe auf der Landstraße 277 mit anschließender Nachtwache geleuchtet.
„Jetzt steht sie hier mit leichten Blessuren. Ich werde sie in die Eiben-Kapelle bringen, damit sie den mutigen Verteidigern von Lützerath leuchte und Zuversicht bringe.“ Er appelliere „an die Vernunft der Politik, noch in letzter Sekunde und den Frevel der Zerstörung zu beenden“.
Aktivisten appellieren an Polizisten
Boutmans appelliert auch „an die Polizistinnen und Polizisten, von ihrem Recht des Demonstrierens Gebrauch zu machen. Wenn sie es nicht tun, müssen sie sich bewusst sein, dass sie bei einer eventuellen Räumung der Eiben-Kapelle christliche Zeichen zerstören werden.“
Es wird wohl nicht dazu kommen, auch wenn Deutschlands prominenteste Klimaaktivistin Luisa Neubauer angesichts dieses Widerstands glaubt, dass die Politik damit nicht gerechnet habe. „Man merkt, dass anscheinend unterschätzt wurde, welche Kraft in diesem Ort steckt“, sagt sie, nachdem sie am Mittag in Lützerath eingetroffen ist.
„Hier zeigt eine Gesellschaft, dass sie versteht: Es geht um alles. Das Dorf hier ist überlaufen von Menschen, die aus der ganzen Republik angereist sind.“
Großdemonstration für den kommenden Samstag geplant
Am Montag wird Aachens Polizeipräsident Dirk Weinspach um 12 Uhr über den bevorstehenden Polizeieinsatz informieren, am Dienstag können sich die Menschen im Kreis Heinsberg ab 17 Uhr im Erkelenzer Berufskolleg mit Fragen an den Landrat und den Polizeipräsidenten wenden.
Ab Mittwoch müssen die Klimaaktivisten mit dem Beginn der Räumung rechnen. Für den kommenden Samstag, 14. Januar, ruft das Aktionsbündnis „Lützerath unkündbar“ zu einer Großdemonstration auf, die laut Michael Zobel „irgendwo in den Feldern zwischen Keyenberg und Lützerath stattfinden soll.
Auf dem wohl letzten Dorfspaziergang durch Lützerath greift Zobel noch einmal zum Megafon: „Ich kann nicht zu Straftaten aufrufen, aber ich freue mich über jeden, der einen Bagger zum Anhalten bringt.“