1566 Menschen lebten einst in den fünf Ortschaften, die dank des früheren Kohleausstiegs doch nicht abgebaggert werden. Aber die Rückkehrwilligen lassen sich an einer Hand abzählen. Was die Gemeinde Erkelenz nun vorhat.
Zukunft gesucht am Tagebau GarzweilerGestalten lässt sich in den geretteten Dörfer viel, zurückkommen wollen aber nur wenige
Was braucht ein Dorf, um lebenswert zu sein? Mit dieser scheinbar banalen Frage muss sich Stephan Muckel nahezu täglich beschäftigen. Der CDU-Politiker ist Bürgermeister von Erkelenz und in der historisch wohl einmaligen Situation, dass ihm fünf Dörfer zur Wiederbelebung überlassen sind, die am Tagebaurand des Braunkohlenreviers Garzweiler längst abgeschrieben waren und in Teilen schon den Baggern zum Opfer fielen.
Dörfer, in denen einst 1566 Menschen lebten, die – bis auf eine Handvoll – je nach Blickwinkel längst umgesiedelt wurden oder weggezogen sind; in denen es so gut wie keine öffentliche Infrastruktur mehr gibt und derzeit vor allem geflüchtete Menschen leben. Ein Großteil davon stammt aus der Ukraine. Ob sie dauerhaft bleiben werden, ist ungewiss.
40 Jahre wird es dauern, bis der Garzweiler See vollgelaufen ist
Dörfer, die aus Sicht des Bürgermeisters und Berufsoptimisten Muckel im Städtedreieck zwischen Köln, Düsseldorf und Aachen eine große Zukunft vor sich haben. Und das nicht erst in 40 Jahren, wenn sie am Garzweiler See liegen sollen. So lange wird es nach Schätzungen von Experten dauern, bis der ehemalige Tagebau mit Rheinwasser vollständig geflutet ist. Sondern möglichst bald. Die Befüllung des Sees soll nach den Plänen der Landesregierung im Jahr 2036 beginnen. Er soll eine Größe von 2260 Hektar haben und mit 1,5 Milliarden Kubikmetern Volumen dann zu den größten Binnenseen Deutschlands gehören.
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Wie besiedelt man fünf verwaiste Dörfer, deren Lebensqualität sich frühestens in einem halben Jahrhundert entfalten wird? Und was geschieht in der Zwischenzeit? Genau darum geht es bei einer Bürgerversammlung in der Erkelenzer Stadthalle, zu der rund 100 Bürger gekommen sind. Muckel informiert sie zunächst darüber, wie viele der ehemaligen Dorfbewohner oder deren Kinder planen, in ihre alte Heimat nach Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich, Unterwestrich oder Berverath zurückzukehren.
Bürger wollen die Dörfer in ihrer gewachsenen Struktur erhalten
Eine Entscheidung haben die Bürger schon Anfang des Jahres getroffen. „Im ersten Schritt der Gesamtplanung haben wir die Satellitenperspektive eingenommen und uns grundsätzlich mit der Frage befasst, wie die fünf Dörfer sich entwickeln sollen. Wachsen sie zusammen oder wird es sogar ein sechstes geben?“, führt Muckel aus. Das Ergebnis im Bürgerwunsch ist eindeutig. Die Mehrheit ist dafür, die Dörfer mit ihren gewachsenen Strukturen in ihrer Substanz zu erhalten und von innen heraus zu stärken. Die Ortsgrenzen sollen erhalten bleiben. Damit stellt sich aber für jedes einzelne Dorf die Frage, was erhalten bleiben kann und was abgerissen werden muss.
Das sind alles Fragen, die vor allem für Rückkehrwillige wichtig sind. Bis Ende Juli mussten sie bei der Gemeinde ihr Interesse bekunden. Zunächst unverbindlich. Der Bürgermeister hatte es schon geahnt, dass es nicht viele sein werden. „Eine Rückabwicklung der Umsiedlung wollte keiner, weil viele Menschen sich nach einem schmerzhaften Prozess entschieden haben, ich gehe den Schritt und baue mir am Umzugsstandort eine neue Heimat auf“, sagt er. „Gleichwohl habe ich gedacht, ein paar werden es bestimmt machen.“
Jetzt liegen die Zahlen auf dem Tisch. 39 haben angefragt, neun davon sind bereits wieder abgesprungen. Die verbliebenen 30 können noch bis Ende November ihr altes Haus besichtigen, um sich einen groben Eindruck über dessen Zustand zu machen. Wer dann überzeugt ist, dass sich ein Rückkauf lohnen könnte, muss mit dem Eigentümer, das ist der Energiekonzern RWE, ein Verkehrswertgutachten in Auftrag geben, das zu 90 Prozent vom Land und zu zehn Prozent von der Gemeinde finanziert wird. Sollte der Kauf doch nicht zustande kommen, muss der Interessent den von der Gemeinde geleisteten Anteil übernehmen.
Zwölf Gutachten sind vergeben, bei zehn Interessenten steht die Entscheidung noch aus, weiß Bürgermeister Muckel. Damit ist kein Dorf zu machen. Spätestens Ende des Jahres soll geklärt sein, wer zurückkehren möchte. In zwei Planungswerkstätten im Dezember und im Frühjahr will die Gemeinde mit den Bürgern und Fachleuten parallel daran arbeiten, wie die Dörfer möglichst schnell zu neuem Leben erwachen können.
Entwicklungskonzept soll im Frühjahr 2025 stehen
Dabei geht es um sehr konkrete Planungen. Wie lässt sich der Dorfkern von Keyenberg aufwerten? Was wird aus dem historischen Vierkanthof und der Kirche? Wie könnte der Ortsmittelpunkt von Berverath rund um die kleine Kapelle gestaltet werden? „Wir müssen natürlich auch planen, welche öffentlichen Einrichtungen benötigt werden. Ein neuer Kindergarten zum Beispiel, vielleicht sogar eine Schule, obwohl das jetzt natürlich noch ganz weit in der Zukunft liegt“, sagt Muckel. „Wo werden Begegnungsräume wie Bürgerhäuser geschaffen? Wo kommt das Feuerwehrhaus hin? Wo kann kulturelles Leben in einer Kirche stattfinden? Wo kann man neue Quartiere denken, die mit einem Bauträger und einem Investor errichtet werden?“
Eins will der Bürgermeister auf jeden Fall verhindern. „Grundstücke und Immobilien dürfen nicht zu Spekulationsobjekten werden“, sagt Muckel. Deshalb werden zunächst Bürger aus Erkelenz und möglicherweise aus den Kommunen, die dem Tagebau-Zweckverband angehören, bei Verkäufen bevorzugt. „In die freie Vermarktung werden wir erst in einer dritten Phase gehen.“
Das Entwicklungskonzept soll im Frühjahr 2025 stehen und vom Gemeinderat beschlossen werden. „Wir sind davon überzeugt, dass hier Räume entstehen, die schon jetzt ihre Qualitäten haben, aber durch den Garzweiler See als neues Naherholungsgebiet ganz andere Interessengruppen ansprechen werden“, glaubt Muckel. Fünf Dörfer am See. Das klingt gut. Man muss nur einen langen Atem haben.